Die Schweiz streitet über das Impf-Obligatorium
Die Notwendigkeit von Impfungen steht in der Schweiz im Zentrum einer politischen Debatte. Die Pflicht zu Impfungen, wie sie im neuen Epidemiengesetz festgeschrieben wird, stösst dabei auf grosses Misstrauen. Am 22. September entscheidet das Volk.
Zunehmende Mobilität und Urbanisierung, Migrationsbewegungen und klimatische Veränderungen: Das Umfeld, in dem Infektionskrankheiten auftreten und die öffentliche Gesundheit gefährden, hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Von diesen Veränderungen wird auch die Schweiz nicht ausgespart.
Neue Viren und Krankheiten – etwa die gefährliche Lungenkrankheit SARS, die Schweinegrippe H1N1 oder Vogelgrippe H5N1 – haben aufgezeigt, dass die Mittel der bestehenden Gesetzgebung nicht mehr genügen. Eine Anpassung der Gesetze an die neuen Herausforderungen erscheint zur Überwachung, Verhütung und Bekämpfung von übertragbaren Krankheiten daher als notwendig.
Das geltende Epidemiengesetz (EpG) stammt aus dem Jahr 1970 und ist längst veraltet. Auf Grund einer Anregung der kantonalen Gesundheitsdirektoren haben Bundesrat und Parlament eine Totalrevision dieses Gesetzes erarbeitet. Das neue Regelwerk verteilt die Kompetenzen klarer und stärkt die strategische, koordinierende und kontrollierende Funktion des Bundes.
Der Bund legt demnach die nationalen Ziele im Bereich übertragbarer Krankheiten unter Einbezug der Kantone fest und ist verantwortlich für die Vorbereitung auf Notlagen. Die Kantone sind weiterhin für die Durchführung der Massnahmen (Vollzug) zuständig. Ein ständiges Koordinationsorgan verbessert die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen und fördert den einheitlichen Vollzug.
Das Parlament hat den revidierten Gesetzestext mit Unterstützung aller Parteien klar angenommen: 149 Ja-Stimmen bei 14 Nein-Stimmen und 25 Enthaltungen im Nationalrat, 40 Ja-Stimmen, 2 Nein-Stimmen und 3 Enthaltungen im Ständerat.
Eine Impfpflicht sollte nicht mit einem Impfzwang verwechselt werden. Niemand kann gegen seinen eigenen Willen zu einer Impfung gezwungen werden.
Auch das neue Epidemiengesetz sieht keine Sanktionen oder Freiheitsstrafen gegen Personen vor, die sich einer obligatorischen Impfung verweigern.
Für Personal im Gesundheitswesen kann eine verweigerte Impfung allerdings zur Folge haben, dass eine Anstellung in bestimmten Abteilungen zum Schutz der Patienten vor übertragbaren Krankheiten nicht möglich ist.
Entscheid an der Urne
Nach dem Parlamentsentscheid wiederholte sich das Szenario, das schon ein Jahr zuvor bei der Änderung des Tierseuchengesetzes eingetreten war. Wie damals ergriff der Naturheilpraktiker Daniel Trappitsch mit einigen Gleichgesinnten – alle entschiedene Gegner der Impfpflicht – das Referendum.
Dieses Mal hat sich der Kreis der Gegner allerdings erweitert. Eine ganze Reihe von rechtskonservativen Gruppen mobilisiert gegen die Gesetzesrevision – jeweils mit unterschiedlichen Argumenten.
Die Referendumsbefürworter haben mehr als 77’000 Unterschriften gesammelt. Damit kam das Referendum zustande. Das neue Gesetz wird dem Souverän am 22. September zur Abstimmung unterbreitet.
Gegen eine Impfpflicht
Die Motive der Gegner sind unterschiedlich, doch sie sind sich in einem Punkt einig: Sie möchten verhindern, dass dem Bund das Recht eingeräumt wird, bestimmte Impfungen zur Pflicht zu machen.
Sogar ein Teil der Linken, die das Referendum nicht mittrug, ist in diesem Punkt mit den Gegnern einig. Bisher besassen nur die Kantone ein solches Recht. Die Frage zur Impf-Pflichlicht hat bereits in der Parlamentsdebatte zu heftigen Auseinandersetzungen geführt.
Gemäss Artikel 6 des neuen Epidemiengesetzes liegt eine «besondere Lage» vor, wenn:
a. die ordentlichen Vollzugsorgane nicht in der Lage sind, den Ausbruch und die Verbreitung übertragbarer Krankheiten zu verhüten und zu bekämpfen, und eine der folgenden Gefahren besteht:
1. erhöhte Ansteckungs- und Ausbreitungsgefahr,
2. besondere Gefährdung der öffentlichen Gesundheit,
3. schwerwiegende Auswirkungen auf die Wirtschaft oder auf andere Lebensbereiche;
b. die Weltgesundheits-Organisation (WHO) festgestellt hat, dass eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite besteht und durch diese in der Schweiz eine Gefährdung der öffentlichen Gesundheit droht.
«Diese Kompetenzerweiterung ist nicht angebracht», meint Yvonne Gilli, Verfasserin des Berichts der vorbereitenden Kommission im Nationalrat. Die grüne Nationalrätin, von Beruf Ärztin, ist der Ansicht, dass die Einführung eines Impf-Obligatoriums dem Bundesrat «nur in einer aussergewöhnlichen Situation» erlaubt sein sollte.
«Das neue Gesetz begrenzt und präzisiert gerade diese Impfpflicht, während das geltende Gesetz den Kantonen viel Spielraum zur Verordnung der Impfung in Normalsituationen gibt», entgegnet der freisinnig-liberale Tessiner Nationalrat Ignazio Cassis, auch er ein Mediziner.
Gemäss dem Gesetzestext «können die Kantone Impfungen von gefährdeten Bevölkerungsgruppen, von besonders exponierten Personen und von Personen, die bestimmte Tätigkeiten ausüben, für obligatorisch erklären, sofern eine erhebliche Gefahr besteht». Die Eidgenossenschaft kann die Impfpflicht für diese Personen oder Personengruppen nach Anhörung der Kantone verordnen, insofern «eine besondere Situation» besteht.
Gemäss Gilli rechtfertigt sich dieser Passus nicht. Und schon gar nicht «aus epidemiologischen Gründen». Die grüne Parlamentarierin sieht sogar die Gefahr, «dass für die Impfungen mehr aus wirtschaftlicher denn aus epidemiologischer Sicht Druck gemacht würde».
Die Neuverteilung der Kompetenzen in Bezug auf die obligatorischen Impfungen ist nicht die einzige Neuigkeit in der Totalrevision des Gesetzes.
Neu ist auch, dass das Bundesamt für Gesundheit ein nationales Programm in den Bereichen der therapieassoziierten Infektionen und Resistenzen bei Krankheitserregern erarbeitet.
Zudem sieht das Gesetz eine vertiefende Information der Bevölkerung zu übertragbaren Krankheiten vor, darunter auch sexuell übertragbare Krankheiten. Der Bund kann zudem in Schulen informieren.
Wie viel Föderalismus?
Ihrer Ansicht nach gibt es gewaltige wirtschaftliche Interessen an den Impfprogrammen, gehe es doch «um Millionen von Dosen». Gilli distanziert sich aber von Thesen, wonach die Schweizer Behörden und die Weltgesundheits-Organisation nur im Auftrag der Pharmaindustrie handelten.
«Es ist gerechtfertigt sich zu fragen, ob die Entscheide des Staates nicht von einseitigen ökonomischen Interessen gesteuert werden», hält Cassis seinerseits fest. Seiner Meinung nach funktionieren aber die Kontrollmechanismen, «es gibt vollkommene Transparenz». Die Risiken seien minim.
Für Cassis verstösst das neue Gesetz auch nicht gegen den Föderalismus, wie von einigen Seiten kritisiert wird. Auch ihm liege der Föderalismus am Herzen. «Aber Viren halten sich nicht an Kantonsgrenzen. Daher ist es bei der Bekämpfung von übertragbaren Krankheiten besser, auf ein wenig Föderalismus zu verzichten», hält der freisinnige Politiker fest.
Diese Haltung teilt auch Gilli. Sie bekämpfe im neuen Epidemiengesetz einzig die Passagen zu den Impfpflichten: «Ich bin sicher, dass im Falle einer Ablehnung des Gesetzes durch das Volk alle unbestrittenen Punkte umgesetzt werden können. Wenn wir Nein sagen, dann nur weil wir eine Impfpflicht in dieser Form nicht wünschen.»
1882 kam das Impf-Obligatorium im Rahmen des Epidemiengesetzes zur Volksabstimmung und wurde von fast 80% der Stimmenden verworfen.
Die starke Impfgegnerschaft setzte zudem um 1883 die Aufhebung des Impfzwangs in diversen Deutschschweizer Kantonen durch.
Sie argumentierte in erster Linie mit gesundheitlichen Einwänden (u.a. Verursachung anderer Krankheiten, sog. Impfschäden).
Das Epidemiengesetz von 1886 (revidiert 1970) unterstellte die Durchführung der Impfkampagnen und die Einführung einer Impfpflicht weiterhin den Kantonen, die mehrheitlich auf Zwang verzichten.
(Quelle: Historisches Lexikon der Schweiz)
(Übertragen aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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