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Abstimmungen vom 18. Juni 2023

Die Schweizer:innen haben zum dritten Mal über das Covid-Zertifikat entschieden. Was bringt das?

Menschen mit Masken in der Abstimmungsschlange im November 2021
Schweizer:innen in der Schlange vor einem Abstimmungslokal in Fribourg bei der zweiten Abstimmung im November 2021. Die Stimmbeteiligung war damals rekordverdächtig hoch. Keystone / Jean-christophe Bott

Die Schweiz war weltweit fast das einzige Land, wo über das Impfzertifikat in einer Volksabstimmung entschieden worden ist – und zwar gleich mehrfach. Drei Mal hat es ein deutliches Ja zum Covid-Gesetz gegeben. Wie es dazu kam und was der gesellschaftliche Mehrwert von drei Abstimmungen zum selben Thema sein kann. 

Die richtigen und verhältnismässigen Massnahmen, um der Pandemie zu begegnen, waren in vielen Ländern Thema hitziger Debatten.

In den USA hat der damalige Präsident in hoher Kadenz nachweisliche Falschinformationen verbreitet. In der Schweizer Debatte wurde Schweden zum Sehnsuchtsort für all jene, die möglichst wenige Regeln zum Gesundheitsschutz wollten.

Gleichzeitig stach die Corona-Politik der Schweiz in einem Aspekt weltweit absolut hervor: Neben Liechtenstein mit nur knapp 40’000 Einwohner:innen war die Schweiz das einzige Land, in dem die Bürger:innen über die gesetzliche Grundlage von Pandemiemassnahmen abstimmen konnten – wenn auch nicht im Vorhinein.

Giada Gianola blickt in die Kamera
Politologin Giada Gianola ist Doktorandin an der Universität Bern und arbeitet für Année Politique Suisse. David Yela

Giada Gianola ist Politologin und arbeitet für Année Politique Suisse – eine Art Datenbank und Jahrbuch des politischen Geschehens in der Schweiz. Gianola findet es «aus demokratietheoretischer Sicht» gut, dass die Bürger:innen in der Schweiz die Möglichkeit hatten, über die Coronapolitik abzustimmen.

Das fakultative Referendum ist ein verfassungsmässiges Recht in der Schweiz: Wann immer gegen ein Gesetz 50’000 Unterschriften gesammelt werden, kommt es zur Volksabstimmung. Da das Covid-Gesetz mehrmals verändert worden ist, konnte auch mehrfach das Referendum ergriffen werden.

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Was wäre bei einem Nein zum Covid-Gesetz passiert?

Gianola erkennt aber auch ein gewichtiges Argument gegen Volksabstimmungen über die Pandemiepolitik: «Die Pandemie war ein globales Phänomen, das mehrere sehr komplexe und ähnliche Massnahmen wie in anderen Ländern erforderte. Falls diese Massnahmen von den Stimmbürger:innen abgelehnt worden wären, hätte das die Arbeit des Bundesrates und des Parlaments sehr erschwert.»

Bei der ersten Abstimmung im Juni 2021, als die Impfquote in der Schweiz erst bei einem knappen Drittel lag, stimmten 60,2% dem Covid-19-Gesetz zu.

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Lange war das Gesetz weit oben auf der politischen Agenda. Denn es hat nicht nur konkrete Eindämmungsmassnahmen wie Contact Tracing und die Zertifikate für Geimpfte und Genesene geregelt, sondern auch soziale Massnahmen, etwa die Unterstützung für Sportklubs und Kulturbetriebe (diese sozialen Massnahmen sind bereits 2022 ausgelaufen und nicht Bestandteil der dritten Abstimmung).

Andere Instrumente der Pandemiebekämpfung, etwa die Maskenpflicht, sind im Epidemiengesetz geregelt, welches die Schweizer Bürger:innen 2013 angenommen hatten.

Gehässige Stimmung vor der zweiten Corona-Abstimmung

Vor der zweiten Abstimmung im November 2021 waren die Diskussionen besonders gehässig. Die Debatte war geprägt von Verschwörungstheorien. An Demonstrationen kam es zu Angriffen von Gegner:innen der Corona-Massnahmen auf Medienschaffende, ebenso wie von vielen als unverhältnismässig wahrgenommene Polizeieinsätze gegen die Gegner:innen der Pandemieeindämmung.

Demonstration in Bern mit vielen Schweizer Flaggen
Demonstration in Bern gegen die Massnahmen zur Pandemieeindämmung im Herbst 2021. Keystone / Peter Klaunzer

Dem Politologen Claude Longchamp blieb dieser Abstimmungskampf als härtester der letzten Jahrzehnte in Erinnerung. Trotzdem stimmte mit 62% eine grössere Mehrheit als in der ersten Corona-Abstimmung dem Gesetz zu.

Im November 2021 war das Covid-Gesetz das dominante Thema und die Stimmbeteiligung bei dieser Abstimmung mit 65,7% die vierthöchste aller Zeiten.

Vor der dritten Abstimmung im Frühjahr 2023 war das Interesse der Befürworter:innen eher beschränkt. Das Ja hat sich bereits abgezeichnet. Manche nannten die dritte Abstimmung eine «Zwängerei» – auch Lorenz Hess, Nationalrat der Mittepartei und Befürworter, hat das Wort am Abstimmungssonntag verwendet. Zudem sind schon lange keine Pandemiemassnahmen mehr in Kraft.

Warum haben die Schweizer:innen also nochmals abgestimmt? Für den Fall, dass eine gefährliche neue Virus-Variante auftreten könnte, der man rasch begegnen müsste, hat das Schweizer Parlament Ende 2022 entschieden, einige Teile des Gesetzes – darunter das Covid-Zertifikat – von Ende 2022 auf Sommer 2024 zu verlängern.

Wegen dieser Verlängerung um sechs Monate konnten die Gegner:innen erneut das Referendum ergreifen. Sie haben für das Referendum 60’000 Unterschriften gesammelt – 10’000 mehr als nötig.

Drei Volksabstimmungen zum selben Thema sind auch in der Schweiz, wo weltweit am häufigsten abgestimmt wird, eine Seltenheit. «Sicherlich handelt es sich dabei um Ausnahmen, aber das Phänomen mehrerer Abstimmungen zum selben Thema war in den letzten Jahrzehnten dennoch präsenter als man denkt», so Gianola. Zu nennen wäre etwa die Einführung einer staatlichen Einheitskrankenkasse, die die Abstimmenden 1994, 2003, 2007 und 2014 abgelehnt hatten.

Massnahmengegner: Referendum als Form der Teilhabe

«Das Covid-Gesetz wurde mehrmals angepasst, damit dies für die jeweiligen durch Covid-19 verursachten Herausforderungen aktuell war», blickt Gianola zurück. «Verschiedene Komitees waren mit diesem Gesetz nicht einverstanden und haben erfolgreich Referenden gesammelt.» Das Ja in den Abstimmungen habe jeweils die «Legitimität der Entscheidungen gestärkt». Gianola bilanziert: «Dies entspricht den schweizerischen direktdemokratischen Verfahren.»

In den letzten zwei Jahren hat sich die Stimmung zwar etwas entspannt, doch die gesellschaftlichen Gräben wegen der Pandemieeindämmung sind nicht komplett verschwunden.

«In den Jahren 2020 und 2021 war die Stimmung sehr gereizt», sagt Gianola. Dies führt sie darauf zurück, dass das Covid-19-Gesetz «unmittelbare Folgen» für jedes Individuum hatte. Zum Beispiel, weil der Restaurantbesuch eine Weile nur mit Zertifikat möglich gewesen ist.

Diese Konfliktlinien stehen auch in Verbindung zum Vertrauen in das Gemeinwesen. «In einer in der Schweiz durchgeführten Studie wurde 2021 gezeigt, dass Angst vor Covid-19Externer Link zu einer Erhöhung des Vertrauens in die Regierung führt, während Wut das politische Vertrauen verringert», führt Gianola aus.

Aber im politischen System der Schweiz können sich die Wütenden weiter und fortlaufend einbringen. «Personen, die wegen den Covid-19-Massnahmen, ein tieferes politisches Vertrauen haben, haben vielleicht anders partizipiert in der Demokratie.» 

Etwa, indem sie demonstrieren gegangen sind, Unterschriften gesammelt oder das Referendum gegen das Corona-Gesetz unterzeichnet haben. Entsprechend haben sie weiterhin an der Demokratie partizipieren können. «Sie sind nicht aus der Demokratie ausgeschlossen, aber sie nutzen andere politische Teilhabenformen, um ihren Unmut zu äussern.»

Aus dieser Perspektive hat eine dritte Abstimmung über das Covid-Zertifikat gesellschaftlichen Mehrwert: Die Möglichkeit eines Referendums gibt den Unzufriedenen einen institutionellen Rahmen, ihren Unmut ins System einzubringen – und gibt ihnen damit ein Ventil.

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Benjamin von Wyl

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Eine Grundlage für Demokratien ist das Vertrauen in Justiz, Politik, Polizei und die Medien. Deshalb befassen wir uns mit dem Thema – und fragen Sie.

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Editiert von Marc Leutenegger.

Fälschlicherweise hat es in einer früheren Version des Artikels geheissen, die letzte Verlängerung von einigen Teilen Gesetzes sei von Ende 2023 auf Mitte 2024 gewesen. Tatsächlich war es eine Verlängerung von Ende 2022 auf Mitte 2024.

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