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Die Tibeter – erwünschte Flüchtlinge in der Schweiz

Flughafen Kloten in Zürich 1961: Ankunft der ersten Tibeter in der Schweiz. RDB

Die tibetischen Flüchtlinge wurden vor 50 Jahren vor dem Hintergrund des Kalten Krieges mit Konzerten in der Schweiz empfangen. Interview mit Beat Meiner, Generalsekretär der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, über erwünschte und unerwünschte Flüchtlinge.

swissinfo.ch: Weshalb identifizierten sich die Schweizer dermassen mit dem asiatischen Bergvolk aus dem Himalaja, dessen Land 1960 von China annektiert wurde?

Beat Meiner: Eine positive Identifikation mit den Opfern ist sicher ein zentrales Motiv für die Aufnahme von Flüchtlingen.

Bei den tibetischen Flüchtlingen ging es sowohl um eine politische als auch um eine imaginierte Identifikation.

China war kommunistisch regiert und im Vergleich zu Tibet ein Goliath.

Dass die Tibeter ein «Bergvolk sind wie die Schweizer», bildete den Boden für die imaginierte Identifikation.

Ein Mythos – denn in Tat und Wahrheit sind uns die Tibeter kulturell natürlich genau so fremd wie andere Menschen aus Asien.

Die antikommunistische Stimmung in der Schweiz, die Parteinahme für den Schwächeren und der erhoffte wirtschaftliche Mehrwert waren auch die Grundlage für die politische Sympathie für die ungarischen Flüchtlinge nach der Niederschlagung des Volksaufstandes 1956 und für die tschechischen Flüchtlinge 1968 nach dem Prager Frühling.

Eine wichtige Rolle haben auch die Medien gespielt. Die positive Berichterstattung war mit ein Grund für das gewaltige Interesse und die Bereitschaft der Schweizerinnen und Schweizer, den Flüchtlingen zu helfen.

Dalai Lama in der Schweiz

Der Dalai Lama, das religiöse Oberhaupt der Tibeter, besucht vom 7. bis 11. April die Schweiz.

Am Donnerstag nimmt der Dalai Lama an dem von der Tibeter Gemeinschaft in der Schweiz und in Liechtenstein (TGSL) sowie der Gesellschaft Schweizerisch-Tibetische Freundschaft (GSTF) organisierten Festakt «Merci Schwiiz» teil.

Am Samstag steht die Tibet-Solidaritätskundgebung auf dem Zürcher Münsterhof auf dem Programm.

Am Donnerstag bedankte sich der Dalai Lama bei Nationalratspräsidentin Pascale Bruderer für die Solidarität der Schweiz vor 50 Jahren.

Zu einem Treffen mit einem Bundesrat wird es nicht kommen – aus terminlichen Gründen, wie Aussenministerin Micheline Calmy-Rey Mitte März im Nationalrat erklärte.

Die GSTF kritisierte die Haltung des Bundesrats als «politisch bedenklich»: Der Entscheid der Landesregierung sei «nur mit dem politischen Druck aus Peking zu erklären».

swissinfo.ch: Die herzliche Aufnahme der Tibeter, den ersten aussereuropäischen Flüchtlingen in der Schweiz, fällt mit der zunehmenden Angst vor Überfremdung zusammen, die 1970 in der Schwarzenbach-Initiative namentlich gegen italienische Immigranten gipfelte. Wie ist das möglich?

B.M.: Neben der Sympathie für spezifische Gruppen wie die Tibeter gibt es parallel immer auch die Antipathie oder die Angst vor anderen Gruppen, die einem weniger nahe scheinen oder die man als direkte Konkurrenten fürchtet.

So gab es etwa für die Flüchtlinge aus Indochina nach dem Vietnamkrieg in der Schweiz eine sehr grosse Hilfsbereitschaft. Bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe gingen damals zahlreiche Telefonanrufe von Schweizer Bürgern ein, die wissen wollten, wann diese Flüchtlinge denn endlich kommen würden.

Anders bei den Anhängern des Sozialisten Salvador Allende, die nach dessen Sturz durch Pinochet 1973 aus Chile flüchteten. Sie hatten es sehr schwer, Aufnahme in der Schweiz zu finden – sie galten als politische Gegner des Schweizer Bürgertums.

Auch die jüdischen Flüchtlinge aus dem Osten, die ab 1920 in die Schweiz kamen, hatten einen schweren Stand. Sie galten als rückständig und schwer integrierbar. Es wurde gar von einer drohenden Verjudung der Schweiz gesprochen.

Auch die heutigen Flüchtlinge, die zumeist aus Asien und Afrika stammen, machen den Schweizern Angst, weil sie fremd und arm sind.

In der aktuellen Flüchtlingsdiskussion wird häufig gleich ins Absolute gegangen: «Wir können doch nicht die Probleme der ganzen Welt lösen und wir können doch nicht alle bei uns aufnehmen», wird etwa argumentiert.

swissinfo.ch: Die Tibeter gelten in der Schweiz als gut integriert. Inwiefern hat der Startbonus den tibetischen Flüchtlingen in der Schweiz bei der Integration geholfen?

B.M.: Im Vergleich etwa mit den so genannten Boat-People aus Indochina, von denen nach dem Vietnamkrieg rund 8000 Menschen in der Schweiz aufgenommen wurden, hat man bei den Tibetern eine andere Integrationspolitik betrieben.

Während die Tibeter in Gemeinschaften untergebracht wurden, sie unterstützt wurden in der Bewahrung der tibetischen Kultur so etwa auch mit dem buddhistischen Kloster in Rikon, war dies bei den Flüchtlingen aus Indochina nicht der Fall. Mit der Konsequenz, dass die Indochina-Flüchtlinge sehr viel grössere Schwierigkeiten im individuellen Integrationslebenslauf aufweisen.

Dies zeigt auch, dass der aktuelle Integrations-Diskurs in eine völlig falsche Richtung läuft. Die Politiker überbieten sich heute gegenseitig mit repressiven Ideen, wie man Ausländer dazu bringt, so zu werden wie wir, ansonsten sollen sie bestraft werden.

Für die Integration ist es wichtig, dass die eigene Kultur nicht verleugnet wird. Im Gegenteil: Die Flüchtlinge sollten diese weiterpflegen können und sich parallel dazu auf die neue Gesellschaft einlassen und daran partipizieren.

swissinfo.ch: Wie sehen Sie die aktuelle Tibet-Politik des Bundes?

B.M.: In den letzten 50 Jahren haben sich die Beziehungen zu China massiv verändert. Niemand will es sich heute wirtschaftlich mit den Chinesen verderben.

Was die Flüchtlinge aus Tibet anbelangt, so gibt es heute zwar noch einzelne Asylgesuche, doch erhalten sie regelmässig den Status von vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen, was gegenüber den früher Aufgenommenen eine Schlechterstellung bedeutet.

swissinfo.ch: Was für eine Bedeutung hatte die proaktive Aufnahme der tibetischen Flüchtlinge rückblickend für die schweizerische Asylpolitik?

B.M.: Die Aufnahme der tibetischen Flüchtlinge hat wie auch jene der Ungarn und Tschechen einen starken symbolischen Wert. Damit kann man den Menschen vor Augen halten, dass die Schweiz trotz düsteren Kapiteln wie jenem während des Zweiten Weltkriegs im Flüchtlingsschutz eine lange Tradition hat.

Eine Tradition, die bis zu den hugenottischen Flüchtlingen zurückgeht, die im 16. und 17. Jahrhundert in grosser Zahl in der Schweiz aufgenommen wurden.

Bedauernswert ist, dass die Flüchtlingskontingente, im Rahmen derer auch die tibetischen Flüchtlinge in der Schweiz aufgenommen wurden, 1995 sistiert und bisher nicht wieder aufgenommen wurden. Anders in der EU: Dort gewinnt die Neuansiedlung von Flüchtlingen zunehmend an Bedeutung.

Tibeter in der Schweiz

Am 7. Oktober 1950, ein Jahr nachdem Mao Zedong die Volksrepublik China ausgerufen hatte, marschierte die Volksbefreiungsarmee mit 40’000 Mann in Osttibet ein.

Eine Woche nach dem blutigen Volksaufstand im Jahre 1959 flüchtete der damals erst 24-jährige Dalai Lama aus Lhasa nach Indien.

Über 80’000 Tibeter folgten ihm über die verschneiten Himalaja-Pässe ins Exil.

Im Herbst 1960 traf die erste Flüchtlingsgruppe im Kinderdorf Pestalozzi in Trogen ein.

Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges bewilligte der Bundesrat 1963 die Aufnahme von 1000 Tibetern, den ersten aussereuropäischen Flüchtlingen in der Schweiz.

Heute bilden die rund 4000 Tibeterinnen und Tibeter in der Schweiz die grösste Exilgemeinschaft in Europa.

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