Die «Wutbürger» und ihr «Aufruhr gegen die Abzocker»
Der eidgenössische "Aufruhr gegen Abzocker", das massive Volks-Ja zur Minder-Initiative, hat auch in der ausländischen Presse ein breites Echo ausgelöst. Namentlich die deutschen Zeitungen machen die "Wutbürger" und das "potentiell schärfste Aktienrecht" der Welt zum Thema.
«Jetzt sind die Wutbürger auch in der Schweiz angekommen. Dort dürfen sie allerdings nicht nur protestieren, sondern tatsächlich entscheiden», schreibt die Süddeutsche Zeitung (SZ).
Der Wutbürger sei ein «europaweites Phänomen, und er jagt etablierten Politikern Angst und Schrecken ein, ob in Berlin, Barcelona, Bordeaux oder Bologna – er agitiert, er protestiert, er demonstriert». Doch könne er nur wenig bewegen und schmore «im Saft seines ohnmächtigen Zorns».
Auch die «vermeintlich ruhigen Schweizer» seien «zu Wutausbrüchen fähig, nur mit dem Unterschied, dass ihr politisches System ihnen trotzdem zugesteht, vernunftbegabte Wesen zu sein, die in der Lage sind, Entscheidungen selbst zu treffen», so die SZ.
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Risiko direkte Demokratie
Manchmal sei das auch riskant, wie Volksabstimmungen in der Vergangenheit gezeigt hätten, «etwa beim Minarett-Verbot oder bei der Ausschaffungsinitiative gegen die Zuwanderung». Doch zur Demokratie gehöre eben «auch Vertrauen in den Souverän, den Wähler». Nun hätten die als «wertkonservativ und wirtschaftsgläubig geltenden Eidgenossen» dem Land «potenziell eines der schärfsten Aktionärsrechte der Welt» beschert, schreibt die Zeitung weiter.
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Wunderbar für Populisten
«Wahrscheinlich ergäbe eine Volksabstimmung gegen die Abzocke“ überall eine ähnlich hohe Zustimmung wie in der Schweiz. Das Thema ist populär und bedient so manche Neidgefühle», kommentiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Die Schweizer Wirtschaft habe es «nicht geschafft, die raffgierige Spezies unter den Managern zu zähmen».
Doch bis der Volkswille in ein «Gesetz gegossen» sei, werde es noch dauern. «Das bietet Lobbyisten aller Art ein reiches Betätigungsfeld. Nicht zu vergessen: Die Aktionärstreffen werden von internationalen Finanzanlegern bestimmt. Sie sehen Gehaltsfragen erheblich entspannter als viele Kleinaktionäre.»
«Die Schweizer setzen an der richtigen Stelle an», titelt Die Welt und stellt fest, dass Bonuszahlungen für Topmanager «zweifellos ein wunderbares Thema für Populisten» seien. «Aber das Unbehagen, das europaweit viele Menschen angesichts teils abstruser Leistungszulagen bei Investmentbankern und Unternehmenslenkern verspüren, resultiert längst nicht nur aus Missgunst und Neid. Es ist schlicht das Resultat eines Vergütungssystems, das viel zu lange den Aspekt der Nachhaltigkeit von Erfolg vernachlässigt hat.»
Die Wiener Zeitung Der Standard schreibt, das «Beispiel der Eidgenossen sollte in Europa Schule machen. Unsere freie Wirtschaftsordnung würde davon profitieren».
Mit der Abzocker-Initiative sind seit 2004 insgesamt sieben Volksbegehren angenommen worden. Davon stammen nicht weniger als vier von Absendern, die sich mit ihren Anliegen vom politischen Establishment ausgegrenzt fühlten und darum zur Selbsthilfe griffen.
Zu diesen Einzelkämpfern gehört die St. Gallerin Anita Chaaban. Nach der Vergewaltigung ihrer Patentochter hatte die Hausfrau 1988 praktisch im Alleingang eine Initiative «für die lebenslange Verwahrung von Sexual- und Gewaltstraftätern» lanciert. Das Begehren wurde 2004 angenommen.
Einen weiteren Überraschungserfolg landeten 2008 die Genferin Christine Bussat und ihre Elternorganisation Marche Blanche. Ihre Vorlage «für die Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten mit Kindern» schaffte die Abstimmungshürde allerdings nur knapp.
Obwohl seit über 40 Jahren mit politischen Vorstössen aktiv, haftet auch Natur- und Tierschützer Franz Weber hartnäckig das Etikett des Aussenseiters an. Im März 2012 wurde Webers Zweitwohnungs-Initiative vom Volk angenommen.
Sogar in Japan ein Thema
Die online-Ausgabe der französischen Wirtschaftszeitung Les Echos prognostiziert, die Schweiz werde «eine echte Revolution» erleben: «Sie wird zur Weltmeisterin der Aktionärsdemokratie.» Auch andere Zeitungen aus den Nachbarländern platzierten das Thema prominent auf ihren Sites. So zum Beispiel Spiegel Online, Libération, Le Monde und Le Figaro.
In den Augen der New York Times ist das Abstimmungsresultat ein Triumph für Thomas Minder, der damit auch einen persönlichen Kampf gegen das Management der ehemaligen Luftfahrtgesellschaft Swissair ausgetragen habe. Andere englischsprachige Zeitungen wie die Financial Times kritisieren den emotional geführten Abstimmungskampf.
Selten hat ein schweizerisches Abstimmungsthema weltweit ein so grosses Medienecho ausgelöst. So berichtet selbst die zweitgrösste Zeitung Japans, Mainichi Shinbun (Auflage 4 Millionen), über die Annahme der Minder Initiative, die von der Wirtschaft erfolglose bekämpft worden sei, denn «die Wut der Schweizer gegen die übermässigen Saläre ist explodiert».
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