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«Parlamente vermitteln ein verzerrtes Bild der Menschen und ihrer Probleme»

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Erste Helvetische Versammlung in Aarau 1798 als Vorläuferin des heutigen Schweizer Parlaments. Dieses soll mit einer dritten Kammer, bestehend aus per Los ermittelten Bürgerinnen und Bürger ergänzt werden. Diese wären nicht bloss Fassade, sondern würden die Gesetze machen. Photopress-archiv / Str

Wie können Bürgerinnen und Bürger stärker in politische Prozesse eingebunden werden? Politikwissenschaftlerin Hélène Landemore von der Universität Yale schlägt Gremien vor, die aus zufällig aus-gewählten Bürgern bestehen.

Die Idee, dass Bürgerinnen und Bürger viel direkter Einfluss auf politische Prozesse nehmen können und wollen, erhält momentan viel Zuspruch. Denn vielerorts schwächeln die demokratischen Institutionen.

Hélène LandemoreExterner Link untersucht Demokratien weltweit. Die Französin ging 2001 in die USA und lehrt heute in Yale. Im Gespräch mit swissinfo.ch schlägt die Autorin des kürzlich erschienenen Buches Open Democracy: Reinventing Popular Rule for the Twenty-First CenturyExterner Link als mögliche Lösung Gremien vor, die mit «Zufallsbürgern» besetzt sind. Also Laien, die per Los bestimmt wurden. Laut Landemore sollen solche Gremien die Institutionen mit gewählten Volksvertreterinnen und -vertretern ergänzen und zunehmend ersetzen.

swissinfo.ch: Sind Menschen eigentlich von Natur aus demokratisch?

Hélène Landemore: Das ist wie die Frage, ob der Mensch von Natur aus gut oder schlecht ist. Wir alle haben Einfühlungsvermögen, aber so vieles wird in der Kindheit bestimmt. Ich glaube, es hängt von der Gesellschaft ab, in die man hineingeboren wird. In einigen Ländern, etwa den USA, Island, Skandinavien und wohl auch in der Schweiz ist die soziale Gleichheit stark, man spürt sie in den Interaktionen. Und Hierarchien sind nicht so offensichtlich wie etwa in Frankreich oder Grossbritannien.

Hélène Landemore
Hélène Landemore ist gebürtige Französin und lehrt heute in Yale. Stephanie Anestis

Letztlich geht es darum, den Menschen aus dem Kontext heraus zu erziehen, in den er hineingeboren wurde. Und ich denke, das ist machbar.

Was sind Sie auf Ihr Studiengebiet gekommen?

Vor ein paar Jahren habe ich erkannt, dass Gesellschaften auf der Idee basieren, dass viele kluge Menschen eine kluge Gruppe bilden. Tatsächlich aber sagt uns die Sozialforschung, dass die Vielfalt wichtiger ist: Lieber weniger kluge Menschen, dafür verschiedene. Wenn Sie zehn Einsteins haben, welche alle dasselbe mentale Gerüst verwenden, um ein Problem anzugehen, kommt diese Gruppe womöglich nicht weiter.

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Wenn Sie aber Bürger aller Art zusammenwürfeln – einen Dichter, einen Mathematiker, einen Koch –, hat die Gruppe mehr Chance auf Erfolg, weil jeder Teilnehmer andere Stärken hat. Es kommt auf das Aufgabengebiet an. In manchen Feldern wie der Medizin wollen Sie keinen Dichter oder Koch, weil dort ganz spezifische Fähigkeiten gefragt sind. Aber für die Politik und den Umgang mit der Zukunft ist man als diverse Gruppe viel besser dran.

Diese Idee ist auch Kern Ihres Buches Open Democracy. Können Sie uns eine kurze Beschreibung geben?

Viele Menschen sind unzufrieden damit, wie Demokratie heute funktioniert. Dafür gibt’s viele Gründe, worüber zahlreiche Bücher geschrieben worden sind. Meines bietet eine Art Blaupause für eine authentischere Form der Selbstbestimmung. In diesem Modell wird das Zentrum der Macht, also das Parlament als gesetzgebende Gewalt, den einfachen Bürgern geöffnet.

Die entscheidenden Institutionen bilden so genannte «mini-publics», ein nach dem Zufallsprinzip zusammengewürfeltes Gremium, das sich aus Bürgern aller Schichten zusammensetzt. Diesem Gremium wird Macht übertragen: Es kann Gesetze beschliessen und die Agenda bestimmen. Es würde die gewählten Institutionen ergänzen oder womöglich sogar ersetzen.

Was könnten «mini-publics» gegenüber den gewählten Gremien besser?

Mir fällt halt auf – und ich hoffe, das geht vielen Ihrer Leser ähnlich – dass die Vertretung des Gemeinwesens in gewählten Versammlungen sehr parteiisch ist. Parlamente vermitteln ein verzerrtes Bild der Bevölkerung und ihrer Probleme. Ich glaube, dass eine zufällig ausgewählte Mini-Öffentlichkeit viel besser das abbilden kann, was die Gesellschaft braucht und will.

Unsere Gehirne haben unter anderem die Aufgabe, die Realität für uns abzubilden, doch sie verzerren sie auch. Die Frage ist, ob sie gute Arbeit leisten. Unsere politischen Institutionen sind ähnlich. Im Moment machen sie ihre Arbeit nicht gut. Deshalb sind wir mit vielerlei Problemen konfrontiert, welche die Demokratie bedrohen.

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Würden sich diese Mini-Gremien auf bestimmte Themen oder Regionen konzentrieren?

Es könnte ein allgemein ausgerichtetes Gremium sein, das sich auf die Rechtsetzung oder zumindest auf das Agenda-Setting konzentriert und die wichtigsten gesellschaftlichen Probleme der nächsten 10 oder 15 Jahre erörtert, sowie die Prioritäten für deren Lösung.

Die Feinabstimmung der einzelnen Probleme könnte dann an andere Mini-Öffentlichkeiten delegiert werden. Sie sind wie Bausteine: Man kann sie mit anderen kombinieren.

Parlamente, Verwaltungen und Ministerien würden also nicht verschwinden, sie würden nur von einer anderen beratenden Struktur regiert werden?

Ja. Es geht nicht darum, alles wegzuwerfen, sondern die Schlüsselstrukturen und die Bedeutung der Repräsentation zu überdenken. Wir könnten damit beginnen, einen Raum für diese neue und offene gesetzgebende Körperschaft zu schaffen, eine «Volksversammlung» oder ein «Haus des Volkes».

Es hätte seine eigene Zuständigkeit, etwa für Umweltfragen. Wir könnten nach und nach die Macht von den gewählten Versammlungen auf diese dritte Kammer umverteilen, bevor wir schliesslich ein Gleichgewicht finden, in dem alle in fruchtbarer Weise zusammenarbeiten.

Aber ich glaube, davon sind wir noch weit entfernt. Bislang wurde dieses Modell nur in der deutschsprachigen Region Belgiens getestet. Dort gab ein lokales Parlament bereitwillig Macht an einen Rat von 49 zufällig ausgewählten Bürgern ab. Sie sagten: «Okay, wir verpflichten uns, das umzusetzen, was Sie sagen.» Dies ist ein möglicher Weg, aber er hängt von viel gutem Willen seitens der Menschen ab, die an der Macht sind.

Glauben Sie, dass solche Gremien eine echte Gesetzgebungsbefugnis und nicht bloss beratende Funktion haben sollten?

Nein, sie sollten keine rein beratenden Organe sein. Die Leute werden keine Zeit und Energie in etwas investieren, das keine Wirkung hat.

Im Moment gibt es viele Demonstrationen und Proteste gegen die Regierungen, so auch in der Schweiz. Ist die Hauptmotivation der Teilnehmer wirklich der Wunsch nach mehr Demokratie und Engagement?

Ich glaube, es ist der Wunsch nach besserer Repräsentation. Ich bin mir nicht sicher, ob die Menschen jeden Tag darauf brennen, sich in der Politik zu engagieren. Aber wenn sie sehen, dass sie nicht das bekommen, was sie benötigen, dann wollen sie jenen, die regieren, die Macht wegnehmen.

Die Kontrolle zurückgewinnen…

Genau. Und manche Leute sagen: «Gut, machen wir direkte Demokratie.» Aber ich bin mir nicht sicher, ob das die Antwort ist, denn direkte Demokratie ist nur bei bestimmten Themen machbar. Man kann nicht immer alle Leute einbeziehen, Volksabstimmungen sind etwas Besonderes.

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Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es ein Fehler sei, zu glauben, demokratische Souveränität bedeute lediglich, letztendlich ratifizieren zu können. Wo liegt dann die wirkliche demokratische Souveränität?

Darin, das erste und das letzte Wort und in der Mitte das Sagen zu haben! In Frankreich gibt es einen Verfassungstheoretiker, Dominique Rousseau, der von einer «kontinuierlichen Demokratie» spricht. Ich bin zwar mit seiner spezifischen institutionellen Vision nicht einverstanden, aber mir gefällt der zeitliche Begriff.

Meine Metapher ist eher räumlich, es geht um Offenheit und darum, die Menschen so weit wie möglich einzubeziehen. Es geht nicht um blosse Vetos: Ziel sollte sein, politische Prozesse anzustossen, zu überwachen, an ihnen teilzunehmen und schliesslich das letzte Wort zu haben.

Wie sieht es mit dem Schweizer Modell aus? Im Buch sprechen Sie von einer Art Ausnahme.

Ich bin nie dazu gekommen, selbst in der Schweiz zu forschen. In den USA wird sie als grosse Ausnahme dargestellt, die uns nicht viel lehren kann. In Wahrheit ist sie ein Vorbild und eine Inspiration. Doch selbst im Schweizer Modell fehlen die «mini-publics». Es existiert keine zufällig ausgewählte und demographisch repräsentative Körperschaft, die Entscheide fällt.

Repräsentation hat auch mit Vertrauen zu tun. Gerade in Bezug auf Covid-19 ist das ein grosses Thema. Ist dieses Vertrauen etwas, das durch gute Ergebnisse oder durch Ergebnisse unter Einbezug vieler Bürger aufgebaut wird?

Bürgerversammlungen können vieles bewirken. In Frankreich ist die Gesellschaft durch grosses soziales Misstrauen gekennzeichnet. Und zwar sowohl unter den Bürgern als auch gegenüber der Regierung.

Ich nahm dort an «mini-publics» teil. Sie setzen sich aus Menschen aus allen Schichten zusammen. Ich beobachtete, dass das Misstrauen der Menschen von Versammlung zu Versammlung kleiner wurde. Im Grunde genommen bieten solche Gremien eine Möglichkeit der Einflussnahme auf Grundlage von nichts anderem als der Staatsbürgerschaft.

Man muss nicht beweisen, dass man kompetent ist oder einer bestimmten Partei gegenüber loyal ist. Die Teilnehmer sind Teil der Gemeinschaft, die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt werden. Man traut ihnen zu, etwas für die Allgemeinheit tun zu können. Das ist sehr bereichernd und motivierend.

Das Parteiensystem auf der anderen Seite ist antagonistisch, es schafft eine Freund-Feind-Unterscheidung. Viele Menschen sind es satt und steigen deshalb komplett aus der Politik aus.

Kann man sagen, dass jene Staaten die Pandemie gut bewältigen, in denen das soziale Vertrauen gross ist?

Länder, die erfolgreich sind im Kampf gegen Covid-19, hatten bereits Erfahrungen mit früheren Pandemien. In Asien hatten viele Staaten bereits mit Sars zu tun. Ich bin mir nicht sicher, ob der Erfolg der Länder viel mit ihrem politischen System oder mit dem sozialen Vertrauen zu tun hat. Ich bin allgemein noch zurückhaltend, was Lehren aus dieser Situation betrifft.

Was ist mit den Menschen, die gegen die Einschränkungen im Zuge der Pandemie demonstrieren? Einige sind Anhänger von Verschwörungstheorien, aber viele protestieren auch, weil sie ihre Freiheiten eingeschränkt sind. Haben diese Menschen Recht?

Sie haben auf jeden Fall einen Punkt getroffen: Im Moment wird, zumindest in Frankreich, alles von Experten oder der Regierung entschieden. Das Parlament oder die Bürger bleiben aussen vor. Ist es nötig, die Wirtschaft lahm zu legen und so die Aussichten der Jungen zu schmälern, um das Leben von Menschen zu retten, die im Schnitt älter als 80 Jahre sind?

Ich bin mir nicht einmal sicher, ob diese 80-Jährigen dies als fair erachten. Es ist eine schwierige, ja eine schreckliche Frage, aber sie muss gestellt werden. Solange solche Dinge nicht diskutiert werden können, verstehe ich, dass viele Bürger frustriert sind.

Wo könnte ein solches Gespräch stattfinden?

Bei einem Bürgerkongress über die Pandemie und den Wiederaufbau der Welt danach. Momentan hört man viele Geschichten über junge Menschen mit psychischen Problemen oder über häusliche Gewalt. Wir müssen sie ernst nehmen. Vielleicht wird man am Ende sagen, dass der Lockdown richtig war, aber das Ganze muss demokratischer ablaufen.

Welche Art von Leben ist lebenswert und für wie lange? Ich weiss die Antwort auf diese Frage nicht, aber ich glaube, es fehlt ein Prozess, der alle einbezieht. Wir nehmen einfach an, dass die Experten es besser wissen. Aber sie wissen halt auch nicht alles.

Viele aktuelle Buchtitel machen wenig Hoffnung für die Demokratie. Machen Sie sich Sorgen um die Zukunft?

Nun, ich kann nicht glauben, was in den USA passiert. Ich bin nicht von Natur aus zynisch, aber ich bin sehr besorgt darüber. Mir scheint, dass die Republikaner die Demokratie als solche aufgegeben haben. Es geht ihnen nur noch um den Sieg, und das ist sehr gefährlich.

Gleichzeitig denke ich aber, dass die Demokratie und der Wunsch nach Selbstbestimmung immer noch motivierend sind. Wir sehen es aktuell in Weissrussland oder auch in Polen, wo Frauen gegen die Einschränkung der Abtreibung protestieren. Ich glaube, die Menschen wollen Freiheit, und sie wissen, dass sie diese Freiheit nur durch demokratische Verfahren erreichen können.

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