Vom Volk, das freiwillig mehr Steuern zahlt
In der Schweiz bestimmt die Stimmbevölkerung über Höhe und Verwendung von Steuern. Kann das gut gehen?
Die Schweizer und Schweizerinnen sind ein seltsames Volk: Da werden ihnen sechs Wochen Ferien pro Jahr auf dem Silbertablett serviert und was machen sie? Sie sagen Nein! Und zwar deutlich.
Ähnlich bei den Steuern: Dank Volksabstimmungen und Gemeindeversammlungen haben Schweizer und Schweizerinnen regelmässig die Möglichkeit, über Höhe und Verwendung ihrer Steuern selbst zu bestimmen. Im September beispielsweise entscheidet die Stimmbevölkerung über eine Erhöhung der Mehrwertsteuer, um die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) zu finanzieren. Und im Kanton Zürich soll der Pendlerabzug auf 5000 Franken beschränkt werdenExterner Link, so dass mehr Geld in die Steuerkassen gespült wird.
Das Erstaunliche dabei: Die Stimmbevölkerung entscheidet nicht immer zu Gunsten des eigenen Portmonees. So hat beispielsweise das Volk vor drei Jahren eine Vorlage angenommen, wonach Pendler auf Bundesebene nur noch höchstens 3000 Franken bei der Einkommenssteuer abziehen dürfen. Diese indirekte Steuererhöhung diente der Finanzierung der Bahninfrastruktur.
Woher kommt diese Vernunft, mit der nüchtern Vor- und Nachteile einer Vorlage abgewogen werden, statt kurzfristig auf die eigene Steuerrechnung zu schielen? Aus der Tradition der GemeindeversammlungenExterner Link. Schon im Mittelalter versammelten sich Bürger – und teilweise auch Bürgerinnen, nämlich Witwen – unter der Linde, auf dem Kirchhof oder im Wirtshaus und entschieden über Finanzen und Steuern.
Auch heute noch finden in den meisten Schweizer Gemeinden Bürgerversammlungen statt – inzwischen meist an einem trockenen Ort –, an denen unter anderem über den Steuerfuss und die Ausgaben der Gemeinde entschieden wird. Dabei wird diskutiert, abgewogen und gestritten. Und am Ende nicht selten einer Steuererhöhung zugestimmt: So stimmte beispielsweise 2013 die Gemeindeversammlung in Samedan einer Erhöhung des Steuerfusses um 20 Prozent zu, um die Schulden der Gemeinde zu sanieren. Und in Schwyz beschloss die Bevölkerung gegen den Willen der Regierung eine Erhöhung des Steuerfusses um 10 Prozent, um bei Bildung und energiefördernden Massnahmen nicht sparen zu müssen sowie familienergänzende Tagesstrukturen an Schulen subventionieren zu können.
So ist jeder Schweizer und jede Schweizerin ein kleiner Politiker, der die Geschicke der Gemeinschaft mitlenkt. Die Schweizer haben durch diese politische Mündigkeit gelernt, dass zur Selbstbestimmung eben auch Selbstverantwortung und langfristiges Denken gehören.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch