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«Ebola ist nur eine von vielen vernachlässigten Krankheiten»

Ein Mitarbeiter der Gesundheitsbehörden in Sierra Leone desinfiziert den Boden, auf dem ein Mann unter Ebola-Verdacht sitzt. Keystone

Zwei Impfstoffe gegen Ebola werden vermutlich in der Schweiz am Menschen erprobt. Doch warum dauerte es fast 40 Jahre, um ein Mittel gegen das Virus zu finden, das Westafrika heimsucht? Diese Frage stellte swissinfo.ch dem Direktor des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Instituts, Marcel Tanner.

Mit über 6000 Fällen in Westafrika ist die Ebola-Epidemie dieses Jahres die schlimmste in der Geschichte. Angesichts des Notstandes sei es zwingend, rasch einen Impfstoff zu finden, unter Einhaltung der ethischen und klinischen Standards, sowie vordringlich das medizinische Personal zu schützen. Dies sagt Marcel Tanner, Direktor des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Instituts in BaselExterner Link.

swissinfo.ch: Am 23. September hat das Bundesamt für Gesundheit (BAG) den ersten Fall eines Ebola-Verdachts in der Schweiz gemeldet. Erste Tests weisen allerdings darauf hin, dass es sich um einen falschen AlarmExterner Link handelte. Bereitet Ihnen die Möglichkeit eines ersten Falles von Ebola in der Schweiz Sorgen?

Tests mit zwei Impfstoffen in der Schweiz

Die Weltgesundheits-Organisation hat zwei vielversprechende Impfstoffe gegen die Ebola-Epidemie ermittelt.

Das erste ist ein Adenovirus, das in Schimpansen vorkommt und von den US-Gesundheitsbehörden in Zusammenarbeit mit dem Pharmariesen GlaxoSmithKline entwickelt wurde.

Das zweite ist ein vesikuläres Stomatitis-Virus, das von der US-Firma NewLink Genetics entwickelt wurde.

Die klinische Studie der beiden Impfstoffe soll mit 100 Personen in Lausanne und Genf durchgeführt werden. Zuvor müssen allerdings noch die Schweizerische Zulassungs- und Aufsichtsbehörde für Heilmittel (Swissmedic) wie auch die nationale Ethikkommission grünes Licht geben.

Marcel Tanner: Nein. Dieser Fall in LausanneExterner Link zeigt, dass unser Gesundheitssystem in der Lage ist, mit einer solchen Situation umzugehen. Es wurde korrekt vorgegangen, und sollten die aktuellsten Tests ein positives Resultat zeigen, würden alle Massnahmen der Intensivmedizin ergriffen.

Wir hatten bereits vor 20 Jahren in Basel einen Ebola-Fall. Wie heute gab es weder Impfstoffe noch Medikamente. Wir wissen aber, dass auch mit kleineren Pflegemassnahmen wie etwa der Isolierung und Hygienemassnahmen die Sterblichkeitsrate gesenkt werden kann.

swissinfo.ch: Das Risiko also, dass sich das Virus auch in Europa ausbreiten könnte, ist daher minim…

M.T.: Genau. Unsere Gesundheitssysteme können mit dem Problem umgehen. In diesem Zusammenhang ist es interessant, den Fall von Nigeria zu zitieren, von wo seit einiger Zeit kein einziger neuer Infektionsfall mehr gemeldet wurde. Würden rasch die korrekten Massnahmen ergriffen, könnte auch ein suboptimales Gesundheitssystem die Ausbreitung des Virus unterbinden.

swissinfo.ch: Zwei Impfstoffe werden vermutlich in Lausanne und Genf am Menschen getestet. Warum wird diese entscheidende Phase ausgerechnet in der Schweiz durchgeführt?

M.T.: Das war der feste Wunsch der in Genf ansässigen Weltgesundheits-Organisation. Es ist die beste Art, wenn man Impfstoffe unter den gleich strengen Bedingungen testet und die Wirkungen vergleichen kann.

Zudem verfügen unsere Universitätsspitäler über die passenden Einrichtungen, um solche Tests durchzuführen. Das Ziel dieser klinischen Studien ist es, festzustellen, ob der Impfstoff beim Menschen eine Immunantwort hervorrufen kann.

swissinfo.ch: Wie steht es um mögliche Nebenwirkungen, die erst nach Jahren auftreten können?

M.T.: Man muss dieses Risiko in Kauf nehmen. Man darf nicht allein den Sicherheitsfaktor in Betracht ziehen, sonst würde kein einziges Medikament produziert.

Ich gebe ein Beispiel: Vor fünf oder sechs Jahren mussten wir ein Medikament gegen die Schlafkrankheit im Kongo aus dem Verkehr ziehen, weil es zu seltenen Nebenwirkungen führte. Mit dem Resultat, dass man die Krankheit heute mit einem Medikament bekämpft, das vor 50 Jahren entwickelt wurde und von 100 Patienten zwei bis fünf sterben.

Externer Inhalt

In der Risiko-Abschätzung für den Ebola-Impfstoff wird daher auch der Nutzen berücksichtigt, auch angesichts der Dringlichkeit der Situation.

Wir möchten so rasch wie möglich das medizinische Personal impfen. Das Wichtigste sind nicht nur die Ebola-Toten, sondern auch die Tatsache, dass die Gesundheitssysteme fortlaufend zusammenbrechen.

Ein riesiges Problem ist, dass sich das Personal abgelegener Spitäler nicht mehr an die Arbeit wagt. Es fehlt an Schutzanzügen, an Desinfektionsmitteln. Wer will unter solchen Bedingungen noch arbeiten?

swissinfo.ch: Die erste Ebola-Epidemie wütete 1976. In fast 40 Jahren ist weder ein Impfstoff noch eine Behandlung auf den Markt gekommen. Weshalb?

M.T.: Ebola ist eine der vielen vernachlässigten Krankheiten, wozu man die Malaria, die Schlafkrankheit oder parasitäre Krankheiten zählen kann. Die DNDi-InitiativeExterner Link von Ärzte ohne Grenzen (deren Ziel die Entwicklung von Medikamenten gegen vergessene Krankheiten ist; die Red.) hat viel erreicht. Doch wegen der begrenzten Mittel ist es notwendig, Prioritäten zu setzen. In den Kampf gegen Malaria wird eine Milliarde Dollar pro Jahr investiert. Stünde eine weitere Milliarde zur Verfügung, könnte auch die Ebola in die Initiative aufgenommen werden.

Wir haben Ebola immer als Epidemie mit kleinem Ausmass betrachtet, die mit Hygienemassnahmen und Isolierung eingedämmt werden kann. Wir haben das so in den Griff gekriegt, als vor 20 Jahren in der Demokratischen Republik Kongo ein aggressiver Virenstamm ausgebrochen war. Niemand sagte damals, man brauche ein Medikament, weil die Gesundheitsmassnahmen ausreichten. Doch die heutige Situation ist anders.

Professor Marcel Tanner, Direktor des Instituts für Tropenmedizin an der Universität Basel. SRF

swissinfo.ch: In den letzten Monaten sind scheinbar aus dem Nichts verschiedene Impfstoffe und Behandlungsmethoden gegen Ebola aufgetaucht. Befanden sich diese Heilmittel in einem Tresor, oder war die Forschung unglaublich schnell?

Ebola-Sterberate über 70%

Der Grossteil der von der gegenwärtigen Ebola-Epidemie betroffenen Menschen ist zwischen 15 und 44 Jahre alt. Die Sterberate beträgt 70,8%, wie eine Analyse von Gesundheitsexperten der Weltgesundheits-Organisation (WHO) zeigt, die im New England Journal of MedicineExterner Link publiziert wurde. Sie untersuchten 3343 bestätigte und 667 vermutete Ebola-Fälle aus Guinea, Liberia, Nigeria und Sierra Leone bis 14. September.

Der Verlauf der Infektion und die Inkubationszeit (im Mittel 11,4 Tage) entsprechen gemäss dem Artikel jenen, die bereits bei früheren Epidemien gemessen wurden.

Die WHO warnt, die Epidemie, die sich vor allem auf Guinea, Liberia und Sierra Leone beschränkt, könnte bis zu 20’000 Tote fordern.

M.T.: Zuallererst muss ich erwähnen, dass es immer Forscher gibt, die weit weg vom Scheinwerferlicht an ihren Projekten arbeiten, besonders im Bereich der hämorrhagischen Viren, zu denen das Ebola-Virus gehört. Zweitens gibt es die Bedrohung durch Bioterrorismus, und die Amerikaner verfügten bereits über eine Behandlung aus der militärischen Forschung.

swissinfo.ch: Man könnte auch sagen, die Pharma-Industrie interessiere sich nicht für jene Krankheiten, die geringe Profite versprechen…

M.T.: Das könnte man in vielen Fällen bestätigen, wenn man nur an die 1990er-Jahre denkt. Doch dann, mit der Schaffung der DNDi-Initiative, wurde die Zusammenarbeit zwischen der Industrie und dem öffentlichen Sektor verstärkt. Klar setzen sich nicht alle Pharma-Unternehmen mit der gleichen Verbindlichkeit ein. Doch auch der öffentliche Sektor muss Prioritäten setzen.

Man kann höchstens kritisieren, dass wir nicht schneller Resultate erreicht haben. Vorwürfe, die auch gegen uns im akademischen Sektor erhoben werden könnten. Vermutlich haben wir ungenügend darauf hingewiesen. Doch dies ist vielleicht so, weil Ebola im Vergleich mit anderen Krankheiten eher klein ist. Es ist nur ein vernachlässigtes Virus unter den vernachlässigten Krankheiten.

Ich wiederhole: Es ist immer eine Frage der Prioritäten, zu denen sich auch die Gesellschaft äussern muss. Wir müssen einen Konsens finden, um festzustellen, wo wir investieren wollen. Wir brauchen etwa einen Impfstoff gegen Alzheimer oder andere Altersphänomene. Warum geschieht in diesem Bereich nichts?

swissinfo.ch: Gegen welche anderen Viren brauchen wir bald einmal einen Impfstoff?

M.T.: Eine Krankheit, die immer wieder vergessen wird, ist das Dengue-Fieber. Der experimentelle Impfstoff verfügt über eine begrenzte Wirksamkeit von etwa 50 Prozent. Das ist nicht genug. Ich denke auch an die Malaria, die jede Minute einen Menschen dahinrafft.

(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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