«Die Schweiz ist nicht das Land der grossen Ideen»
Die Schweiz geht in die letzte Phase des Wahlkampfes vor den Parlamentswahlen am 20. Oktober. Aber wo ist das Wahlfieber, das die Debatten in anderen Ländern befeuert? Im Vergleich dazu wirken die Schweizer Wahlen richtiggehend langweilig. Der Grund liegt in der direkten Demokratie, erklärt der Politologe Sean Müller.
Trotz Demonstrationen und Streiks für das Klima oder die Gleichstellung der Geschlechter sind diese Hauptthemen der heutigen Zeit in der politischen Debatte in der Schweiz nicht präsent. Während Migration und Asyl oft den Wahlkampf dominiert haben, gibt es dieses Jahr kein Thema, das die politischen Parteien die Waffen kreuzen lässt. Diese Monotonie überrascht Sean Müller nicht. Er forscht am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern.
swissinfo.ch: Man hätte meinen können, die Parteien würden über das Klima oder die Frage der Gleichstellung von Männern und Frauen streiten, aber es gibt kein Thema, das den Wahlkampf belebt. Warum?
Sean Müller: In diesem Jahr gibt es kein Schockereignis, zu dem die Parteien gezwungenermassen Stellung beziehen müssen, wie bei der «Flüchtlingskrise» im Jahr 2015 oder dem Reaktorunfall von Fukushima im Jahr 2011. Aktuelle Themen – Klima, Gleichstellung oder das Gesundheitssystem – sind keine völlig neuen Themen, die mit einer plötzlichen Krise verbunden sind. Die Parteien können diesen Fragen ausweichen, auch wenn diese paradoxerweise mehr Menschen betreffen als die «Flüchtlingskrise». Die lebhaften letzten beiden Wahlkämpfe waren eher die Ausnahme, der diesjährige langweilige Wahlkampf ist die Regel.
swissinfo.ch: Geht es dem Land einfach zu gut?
S.M.: Es ist nicht nur das. Schon vor vier oder acht Jahren lief es gut: Es gab keine grössere Wirtschaftskrise, Streiks oder politische Blockaden wie in anderen Ländern. Vielleicht liegt es auch an der Mentalität. Wir sind an den «courant normal» gewöhnt, und alle arbeiten zusammen. Die Parteien selbst haben bescheidene Ambitionen. Die SVP will ihren Anteil von 29% der Stimmen beibehalten. Am kühnsten sind die Grünen, die einen Zuwachs von vier oder fünf Sitzen erwarten, aber das ist nichts angesichts der 200 Sitze im Nationalrat. Wenn Parteien keine mutigen Ziele haben, wie kann die Öffentlichkeit dann von der Kampagne begeistert sein?
swissinfo.ch: Warum sind Wahlkämpfe im Ausland spannender?
S.M.: Weil wir in der Schweiz eine direkte Demokratie haben. Viermal im Jahr können die Parteien anlässlich der nationalen Abstimmungen über ein bestimmtes Sachthema diskutieren. Sie haben dadurch viele Möglichkeiten, ihre Positionen darzulegen, und den Bürgerinnen und Bürgern sind sie bekannt. Die Wahlen sind ein wenig langweilig, denn wir hören wieder die gleichen Argumente, es sei denn, es gibt ein neues Ereignis. In den Nachbarländern sind es vor allem die Wahlen, die es den Parteien ermöglichen, zu verschiedenen Themen Stellung zu nehmen.
«Wenn Parteien keine mutigen Ziele haben, wie kann die Öffentlichkeit dann von der Kampagne begeistert sein?»
swissinfo.ch: Gehören langweilige Kampagnen also zum politischen System der Schweiz?
S.M.: Ja, die Parteien sind in der Schweiz weniger wichtig als in unseren Nachbarländern. Da wir über fast alles abstimmen, haben sie kein Monopol über die politische Agenda. Und sie haben auch nicht das letzte Wort, das haben die Kantone oder das Volk. Zudem sind Föderalismus und Mehrsprachigkeit ein Hindernis für die Parteien. Im Idealfall sollte eine Partei eine einzige Botschaft haben und von einer bis zwei Personen repräsentiert werden, die im ganzen Land bekannt sind. In der Schweiz gibt es keine politische Persönlichkeit, die in allen Sprachregionen bekannt ist, mit Ausnahme von Christoph Blocher von der Schweizerischen Volkspartei (SVP). Einige kantonale Sektionen der Parteien sind auch etwas rechter oder linker. In unseren Nachbarländern sind die Parteien professioneller, disziplinierte und kohärenter.
swissinfo.ch: Die Schweizer Politik des Konsenses würgt in gewisser Weise also die politische Debatte ab…
S.M.: Einerseits ja, aber andererseits können Schweizer Parteien dadurch auch ideologischer sein als in unseren Nachbarländern. Unsere Sozialdemokratische Partei (SP) ist linker als die deutsche, während die SVP viel näher an der Alternative für Deutschland (AfD) ist als Konservative. In der Schweiz können Parteien extrem sein, weil sie nie alles erreichen können, was sie fordern, sondern mit vielen anderen Akteuren Kompromisse eingehen müssen.
Es gibt weniger Einheit innerhalb der Schweizer Parteien und damit weniger starke Persönlichkeiten, die eine Kampagne leiten könnten. Der Vorteil ist, dass unser System die Vielfalt fördert und verschiedenen Charakteren die Möglichkeit gibt, eine Karriere in der Politik zu verfolgen und über ihre Themen zu sprechen.
«In der Schweiz können Parteien extrem sein, weil sie nie alles erreichen können, was sie fordern.»
swissinfo.ch: Kündigt eine langweilige Kampagne auch eine Legislative ohne grosse Fortschritte an?
S.M.: Die Schweiz bleibt ein konservatives Land. Sie ist nicht das Land der Revolutionen oder grosser Ideen. Es kommt darauf an, wer gewinnt. Es ist gut möglich, dass die Grünen mehr als drei oder vier Sitze dazugewinnen. Auch die rechten Parteien verharren nicht starr auf ihren Positionen; sie haben eine Offenheit für gesellschaftliche Fragen gezeigt, wie beispielsweise für die «Ehe für alle». Die Wahlen werden auch zu einem Generationenwechsel und zu einem Wechsel der Vertreter der Sprachregionen führen. Dies sind jedoch nur Details. Die nächste Legislaturperiode lässt keine grösseren Veränderungen erwarten.
In der Schweiz ist der Wandel sehr langsam. Aber wenn eine Entscheidung getroffen wird, wird sie von fast allen akzeptiert, weil jeder und jede an dem Prozess teilnehmen konnte.
Ein Kanton, der Wahlplakate verbietet
Ruedi Eberle von der Schweizerischen Volkspartei (SVP) wird beschuldigt, gegen die Wahlkampfregeln verstossen zu haben. Was liess sich der Nationalratskandidaten in Appenzell-Innerrhoden zu Schulden kommen? Er hängte Plakate auf. Das scheint für jemanden, der ins Parlament gewählt werden will, etwas völlig Normales zu sein – nicht aber in diesem Kanton.
Tatsächlich haben Parteien und Verbände sich in Appenzell-Innerrhoden darauf geeinigt, auf Plakate zu verzichten. Es wird davon ausgegangen, dass die Kandidaten und Kandidatinnen den 16’000 Einwohnern des Kantons bekannt sind. Diese Regel wurde für die Bundeswahlen vom 20. Oktober bei der letzten Landsgemeinde bestätigt.
(Quelle: Keystone-sda)
(Übertragung aus dem Französischen: Sibilla Bondolfi)
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