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«Ein Lehrstellenangebot hätte ich angenommen», sagt der US-Botschafter

US-Botschafter Scott Miller mit Schülerinnen und Schülern
"Wir müssen in den USA ein Rebranding der Lehrlingsausbildung durchführen, um das schweizerische duale System hervorzuheben", bei dem die Ausbildung am Arbeitsplatz mit dem Lernen in der Klasse kombiniert wird, sagt Scott Miller, hier im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern der Gibb, einer Berufsschule in Bern. US embassy in Switzerland and Liechtenstein

Der Botschafter der Vereinigten Staaten in der Schweiz, Scott Miller, erklärt, warum er sich nichts sehnlicher wünsche, als dass sich die Berufsbildung nach Schweizer Vorbild in den USA durchsetze.

Scott Miller hat in seiner Karriere schon viele Hüte getragen. Nach der Universität arbeitete er als Unternehmensberater, Eventplaner und Vermögensverwalter. Als Präsident Joe Biden den aus Denver, Colorado, stammenden Miller zum Botschafter in der Schweiz ernannte, war er bereits Philanthrop und Aktivist in der Gill Foundation, einer von seinem Ehemann Tim Gill gegründeten Organisation zur Unterstützung von LGBTIQ-Rechten.

In einem kleinen Sitzungssaal der Botschaft in der Schweizer Hauptstadt teilt Miller seine Gedanken über seinen Werdegang. «In den Vereinigten Staaten gibt es diesen Vertrauensvorschuss, dass man die High-School abschliesst, dann aufs College geht und hofft, da herauszufinden, was man den Rest seines Lebens werden will», sagt er. Auch wenn diese Formel für ihn letztendlich funktioniert hat, sei sie nicht für alle geeignet.

Seit seiner Ankunft in Bern vor fast einem Jahr setzt sich Miller dafür ein, dass in den USA ein Ausbildungsweg nach Vorbild der schweizerischen Berufsbildung geschaffen wird. Im Rahmen seiner Besuche bei Schweizer Lehrbetrieben hat Miller mit swissinfo.ch über die Attraktivität des Schweizer Systems für die USA gesprochen.

swissinfo.ch: Die USA haben gerade die achte jährliche National Apprenticeship Week gefeiert. Warum wird jedes Jahr eine ganze Woche den Lehrlingen gewidmet?

Scott Miller: In den Vereinigten Staaten haben nur 0,3% der Arbeitskräfte eine Lehre abgeschlossen. Es ist also eine gute Gelegenheit, darauf hinzuweisen, dass die Berufsausbildung eine grossartige Möglichkeit für Unternehmen, Gemeinden und die Industrie ist, ihren Talentpool zu erweitern.

Jeder Job – selbst das, was wir früher als einfache Fertigungsarbeiten betrachteten – erfordert heute eine technische Ausbildung und Fachkenntnisse.

Wenn man sich die Länder mit den besten Ausbildungsmodellen ansieht, stehen die Schweiz, Deutschland und Österreich an der Spitze. Aber ich persönlich bin voreingenommen und denke, dass das Schweizer Modell das beste ist.

Mit unserer Mission in Bern können wir ein Modell hervorstreichen, das besonders gut funktioniert: in der Schweiz gehen 70% der Schüler:innen in die Berufsausbildung. Das ist ein Modell, das wir nachahmen sollten.

Das US-Arbeitsministerium meldet gegenüber 2012 einen Anstieg der Zahl der Auszubildenden um 64%Externer Link. Aber das immer noch nur etwa 600’000 Auszubildende pro Jahr in den gesamten USA. Ist man damit auf Kurs, um – wie Präsident Biden sagt – «die Arbeiter:innen auszubilden, die das Amerika des 21. Jahrhunderts errichten»?

Auf jeden Fall. In den Vereinigten Staaten herrscht das Stigma vor, dass es sich bei Lehrberufen nur um manuelle Arbeit handelt und dass man sein ganzes Leben lang auf diesen Beruf festgelegt ist.

Wir müssen in den USA ein Rebranding der Berufsausbildung durchführen und das schweizerische duale System hervorheben. Die Durchlässigkeit der Ausbildungskomponente – die Möglichkeit, sich weiterzubilden oder einen höheren Abschluss zu machen – ist der Punkt, an dem die Vereinigten Staaten ansetzen und wachsen müssen. Und dann können wir sehen, wie die Lehrlingsausbildung an Fahrt gewinnt.

Hätte man mir eine Lehrstelle angeboten, als ich in der High-School war, hätte ich sie auch angenommen. Zum Glück hat sich alles zum Guten gewendet, aber ein Lehrlingsprogramm hätte mir definitiv mehr Sicherheit und mehr Selbstvertrauen gegeben.

Was unternimmt die Regierung, um das Stigma zu beseitigen, dass Lehrstellen nur Handwerkerjobs sind?

Wir machen die Geschichten der Lehrlinge in den USA sichtbar, die ihr Programm abgeschlossen haben. Und wir zeigen, dass sie voll angestellt sind, dabei zur Schule gehen und dafür bezahlt werden.

In den USA ist die höhere Bildung unerschwinglich geworden, speziell für Familien der Mittelschicht. Wenn man in den USA eine Berufsausbildung macht, kann man schuldenfrei abschliessen und hat eine Erfolgsquote von über 90% bei der anschliessenden Beschäftigung.

Der Lebensweg und der berufliche Erfolg von Auszubildenden ist so gut, dass der Präsident und die First Lady dies zu einer Priorität erklärt haben. Wenn das die jungen Menschen nicht überzeugt, weiss ich nicht, wie man sie überzeugen soll.

Abgesehen von diesem Stigma, was sind die anderen grossen Herausforderungen bei der Einführung des Schweizer Modells in den USA?

In den USA sind wir manchmal in einem kurzfristigen Renditedenken gefangen – dass die Investitionen, die wir tätigen, innerhalb eines Zeitraums von zwölf Monaten eine nachweisbare Rendite bringen müssen.

Es ist also wichtig zu zeigen, dass es sich bei Berufslehren um eine langfristige Investition in unsere Leute handelt, und dass wir am Ende über Arbeitskräfte verfügen, die sich darauf konzentrieren können, unsere Infrastruktur ins nächste Jahrhundert zu führen.

In Ihrem Heimatstaat Colorado hat sich das Jugendausbildungsprogramm «CareerWise» am Schweizer Modell orientiert. Welche Rolle sehen Sie für die verschiedenen Regierungsebenen und -akteure bei der Unterstützung der Lehrlingsausbildung?

Ich denke, es handelt sich wirklich um eine Anstrengung der gesamten Regierung. «CareerWise» nennt sich selbst eine Drehscheibe oder einen Inkubator. Das Programm hat mehrere Schweizer Unternehmen dabei unterstützt, Lehrlingsprogramme in den USA zu starten. Noel Ginsburg, der «CareerWise» leitet, hat das Schweizer Modell sehr, sehr genau studiert.

Seit 2015 gibt es zwischen den USA und der Schweiz eine Absichtserklärung und ein Memorandum of Understanding über die Zusammenarbeit und den Wissensaustausch in der Berufsbildung. Die Absichtserklärung wurde erst vor einem Jahr erneuert. Warum ist diese Vereinbarung für die USA so wichtig?

Diese demonstriert die Absicht der Zusammenarbeit und unterstreicht nicht nur die gemeinsamen Werte, die wir in diesem speziellen Bereich haben, sondern auch die starken bilateralen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen unseren Ländern.

Unter allen ausländischen Unternehmen, die in den USA tätig sind, bilden diejenigen aus der Schweiz die meisten Berufsleute aus – 30 Schweizer Unternehmen beschäftigen derzeit etwa 400 Lehrlinge.

Wenn wir das ausbauen können, sind das die zukünftigen Botschafterinnen und Botschafter der Lehrlingsausbildung, und ich freue mich riesig darüber. In den USA sind sowohl Schweizer Klein- und Mittelbetriebe tätig, die das Brot und die Butter der Schweizer Wirtschaft sind, als auch riesige Konzerne wie Nestlé.

2021 sind die Vereinigten Staaten der wichtigste Exportmarkt der Schweiz. Die Schweiz ist die siebtgrösste ausländische Direktinvestorin in den USA und dort für die Schaffung von fast 500’000 Arbeitsplätzen verantwortlich. Die USA sind auch die wichtigste Handelspartnerin, mit der die Schweiz noch kein Freihandelsabkommen abgeschlossen hat.

Scott Miller zufolge habe man es versucht. «Mein Vorgänger hat sehr hart an einem Freihandelsabkommen gearbeitet und war sehr nahe dran», sagt Miller und fügt hinzu, dass einige Hindernisse bestehen blieben. Die Verhandlungen mit der Schweiz sind besonders im Zusammenhang der Aufhebung der Agrarzölle ins Stocken geraten.

Der Schwerpunkt hat sich nun auf Abkommen für einzelne Sektoren verlagert. Ein Abkommen über die gegenseitige Anerkennung in der Pharmaindustrie ist laut Miller fast fertig.

Auf die Frage, ob ein bilaterales Handelsabkommen nun vom Tisch sei, antwortete Miller, Handelsabkommen seien für die USA eine «wirklich seltene Sache», die einen «immens komplexen Prozess» durchlaufen müssten, einschliesslich der Genehmigung durch den Kongress. Abkommen für einzelne Sektoren könnten hingegen durch einen Beschluss der Exekutive ratifiziert werden.

«Mein Ziel ist es, sicherzustellen, dass wir möglichst viele dieser sektoriellen Abkommen zum gegenseitigen Nutzen beider Länder abschliessen können», ergänzt Miller. «Die Schweiz ist eine Handelspartnerin, die wir gerne haben möchten – es gibt dort gute Absichten.»

Können Schweizer KMU kleineren US-Unternehmen vermitteln, dass es trotz ihrer Grösse möglich ist, ein Lehrlingsprogramm zu haben?

Auf jeden Fall. Die Schweizer KMU zeigen, dass man unabhängig von der Grösse eine Talentpipeline braucht, die bereit ist, die anstehende Arbeit im Unternehmen zu übernehmen. Viele dieser Unternehmen kommen aus Bereichen der Präzision. Die kleiner werdenden mechanischen Komponenten treiben hier so viele Industrien an. Das erfordert Talent und spezialisierte Techniker:innen.

Es besteht die Angst, dass die Automatisierung den Menschen ersetzt. Aber selbst in diesen hochtechnologischen Umgebungen braucht es immer noch Menschen, um die Maschinen zu programmieren und zu bedienen. Und genau dafür braucht es die nächste Generation von Arbeitskräften.

Und was können die Schweizer Unternehmen im Rahmen dieser Vereinbarung von den US-Unternehmen lernen?

Eines der Dinge, die ich immer wieder von Schweizer Unternehmen höre und warum sie den US-Markt so attraktiv finden, ist, dass die Mitarbeiter:innen diesen Sinn für Unternehmertum und Innovation haben. Es gibt einen regen Wissensaustausch über diese Kultur, die wir in die Schweiz bringen können. Ich hoffe, dass die Zusammenarbeit immer zum beiderseitigen Vorteil ist.

Eine Vorgängerin von Ihnen, Suzi LeVine, war eine grosse Verfechterin der Berufsbildung. Haben Sie mit ihr darüber gesprochen, wie die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern in diesem Bereich gefördert werden kann?

Ich hatte das Glück, mit allen meinen Vorgänger:innen zu sprechen. Alle von uns haben die Stärkung der bilateralen Beziehungen als oberste Priorität betrachtet.

Als meine Ernennung im August 2021 bekannt gegeben wurde, lud LeVine meinen Mann und mich ein, das Wochenende mit ihr und ihrem Mann in ihrem Haus in Seattle zu verbringen.

Wir sprachen über ihre gesamte Erfahrung und über ihre politischen Ziele. Sie erkannte den Wert des Schweizer Modells der Berufsbildung sofort und wusste, dass dies ein fantastischer Export in die USA sein würde.

Sie arbeitete unermüdlich daran, die erste Absichtserklärung zur Zusammenarbeit zu erstellen und Schweizer Führungskräfte zu einem Treffen mit den Leitenden von Behörden in den USA einzuladen. Dies wurde unter Botschafter Edward McMullen und jetzt unter mir fortgesetzt.

Mein Ziel ist es, die Zahl der Schweizer Unternehmen, die in den USA Lehrstellen anbieten, zu erhöhen. Und dass wir von ihnen lernen, was wir tun können, um ihnen den Start zu erleichtern und als Botschafter für US-Unternehmen zu fungieren, wie sie diese Programme starten können.

Wie wäre es, wenn amerikanische Lehrlinge ihre Ausbildung und Praktika in der Schweiz absolvieren könnten und umgekehrt? Wäre es sinnvoll, diese Art von Austausch zu intensivieren?

Einige Schweizer Unternehmen, wie Bühler und Novartis, bieten diesen Austausch bereits an. Soweit ich weiss, ist das für sie ein hervorragendes Instrument zur Rekrutierung von Auszubildenden in beiden Ländern. Für viele von ihnen ist das eine ihrer ersten Auslandreisen. Das ist ein weiterer Grund, warum ich mich für eine Berufsausbildung entschieden hätte.

Wir arbeiten mit der Schweiz an der Aktualisierung des Abkommens über die Jugendmobilität, damit das Visumverfahren sowohl für die Schweizer:innen als auch für die Amerikaner:innen einfacher wird, um diesen Austausch zu ermöglichen. Vielleicht haben wir das bis Ende des Jahres vollständig gelöst. Das Ziel ist immer der Abbau von Hindernissen.

Die heutige First Lady Jill Biden besuchte die Schweiz, als ihr Mann Vizepräsident war, um mehr über das Schweizer Modell zu erfahren. Können wir einen weiteren Besuch von ihr erwarten?

Während der Präsidentschaftskampagne habe ich sehr eng mit Dr. Biden zusammengearbeitet. Ich war in ihrem Team. Ich habe auch von ihrem Besuch in der Schweiz im Jahr 2014 gehört, als sie mit Suzi LeVine unterwegs war, um sich Lehrlingsprogramme in der Praxis anzusehen.

Diese Reise hat sie stark beeinflusst in ihrer Herangehensweise an die Lehrlingsausbildung und die Chancen, die sie für ihre Schülerschaft sieht. Als First Lady arbeitet sie immer noch als Lehrerin an einem Community College.

Da sie eine Verfechterin der Lehrlingsausbildung ist, hoffe ich sehr, dass sie uns besuchen kommt. Alle Botschafter:innen hoffen immer, dass der Präsident und die First Lady zu Besuch kommen werden. Aber es gibt keinen festen Zeitplan, den ich verraten könnte.

Übertragung aus dem Englischen: Benjamin von Wyl

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