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Ein Stück weit Präjudiz, aber kein Freipass

Im Kosovo wurde nach dem Urteil des IGH ausgelassen gefeiert. Keystone

Kosovo darf unabhängig bleiben. Diese Nachricht sorgte in Pristina für Jubel und in Belgrad für Konsternation. Rechtsexperte Jörg Künzli hält das Gutachten des Gerichtshofs in Den Haag für nachvollziehbar, viele strittige Fragen seien jedoch nicht beantwortet.

Laut der höchsten Rechtsinstanz der UNO in Den Haag hat die Loslösung der ehemaligen Provinz Serbiens durch die Unabhängigkeitserklärung des kosovarischen Parlaments am 17. Februar 2008 «das internationale Recht nicht verletzt».

Die Einschätzung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) ist rechtlich zwar nicht bindend, wird aber als politische Niederlage Serbiens gewertet.

Die Regierung in Belgrad hatte gehofft, der IGH würde Zweifel an der Rechtmässigkeit der Abspaltung des Kosovo bekräftigen.

Laut Jörg Künzli, Staats- und Völkerrechtler an der Universität Bern, setzt das Völkerrecht zwar den Rahmen, im konkreten Einzelfall müssten jedoch politische Aspekte eine Lösung bringen.

swissinfo.ch: Das Ja des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag zur Rechtsmässigkeit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo ist deutlich ausgefallen – überrascht Sie das?

Jörg Künzli: Ja, man hat im Vorfeld sicher nicht mit so deutlichen Aussagen gerechnet, aber die Deutlichkeit ist auch damit zu erklären, dass der Gerichtshof die Frage sehr stark eingeengt hat.

So hat er die Frage nicht beantwortet, ob Kosovo das Recht auf Sezession hat. Klar distanziert hat er sich auch von der Beantwortung der Frage, ob generell ein solches Recht auf Sezession im Völkerrecht besteht.

Zudem betont der Gerichtshof, er nehme keine Stellung zur Frage der rechtlichen Konsequenzen dieser Unabhängigkeitserklärung, also ob Kosovo ein Staat sei.

Auch nicht Stellung nimmt er dazu, ob das Verhalten der Staaten, die den Kosovo als unabhängigen Staat anerkannt haben, völkerrechtskonform sei oder nicht.

swissinfo.ch: Ist dieses Rechtsgutachten aus völkerrechtlicher Perspektive nachvollziehbar?

J.K.: Ich denke schon. Allerdings ist zu sagen, dass es sich hier wahrscheinlich um den grössten gemeinsamen Nenner der Richterinnen und Richter handelt, der erreichbar war. Man versuchte in diesem Gutachten, den strittigen Fragen möglichst aus dem Weg zu gehen.

Die Frage, wann ein neuer Staat entsteht, bleibt auch nach diesem Gutachten ein Entscheid, der primär politisch entschieden wird. Das Völkerrecht hat auch nach diesem Entscheid in diesem Bereich nur eine begrenzte Steuerungsfunktion.

swissinfo.ch: Ist die Meinung des Gerichtshofs ausgewogen und rein juristisch ausgefallen oder auch politisch, das heisst basierend auf der Realität?

J.K.: Dieses Gutachten bezieht sich ganz stark auf den Einzelfall. Man spürt in der Begründung, dass der Gerichtshof darauf grossen Wert legt.

In der Begründung hat es zwar Ausführungen zum allgemeinen Völkerrecht. Hauptsächlich bezieht sich das Gericht darin aber auf die entsprechenden Resolutionen des Sicherheitsrats und prüfte, ob dort diese Unabhängigkeitserklärung konkret verboten wurde.

Dieses Vorgehen ist sicher nachvollziehbar, betont aber wiederum den Einzelfall-Charakter des Urteils.

swissinfo.ch: Sie sagen, Kosovo ist ein Einzelfall. Heisst das jetzt, der Entscheid ist kein Freipass für andere sezessionswillige Regionen?

J.K.: Jede Unabhängigkeitserklärung ist ein Einzelfall. Man spürt einfach das Bemühen des Gerichtshofs, hier seine präjudizielle Wirkung dieses Gutachtens möglichst einzuschränken.

Diesem Gutachten kann daher eine gewisse präjudizielle Wirkung nicht abgesprochen werden, es ist aber sicher kein Freipass für andere Unabhängigkeitsbewegungen.

swissinfo.ch: Obwohl das internationale Recht laut dem Gerichtspräsidenten kein Verbot von Unabhängigkeitserklärungen kennt?

J.K.: Das allein bringt noch nicht sehr viel. Entscheidend für aufständische Bewegungen, die einen eigenen Staat anstreben, ist ja die Gründung eines neuen Staats. Und zu dieser Frage schweigt das Urteil explizit.

swissinfo.ch: Im Vorfeld war mit einer weniger klaren Stellungnahme gerechnet worden, einer, die es beiden Seiten erlaubt hätte, das Gesicht zu wahren. Ist der Entscheid also mutig?

J.K.: Das kann man als mutig bezeichnen. Der Preis für diese klaren Aussagen ist aber der, dass der Gerichtshof es vermieden hat, zu den strittigen Fragen Stellung zu nehmen.

Man kann es so sagen: Er hat sich darauf beschränkt zu sagen, das Völkerrecht erlaube in diesem Fall Unabhängigkeitserklärungen in dem Umfang, soweit sie nicht absolut verboten sind.

Er erwähnt auch Beispiele von Unabhängigkeitserklärungen, die laut dem UNO-Sicherheitsrat verboten sind, wie etwa Nordzypern.

swissinfo.ch: Kann ein internationales Gericht einen völkerrechtlichen Streit dieser Dimension überhaupt lösen?

J.K.: Ich denke schon, dass das grundsätzlich möglich ist. Wir befinden uns hier aber im Konfliktfeld zwischen Selbstbestimmungsrecht der Völker und territorialer Integrität, also in einem Rechtsbereich, wo das Völkerrecht als junges Recht noch nicht Regeln für alle Einzelheiten kennt.

Hier fehlt einfach die Steuerungsfunktion des Völkerrechts. Es umreisst einen ganz breiten Rahmen. Aber innerhalb dieses Rahmens sind es primär politische Aspekte, die eine Lösung des konkreten Einzelfalls bringen müssen.

Gaby Ochsenbein, swissinfo.ch

Die Schweiz hatte Kosovo bereits zehn Tage nach der Unabhängigkeits-Erklärung vom 17. Februar 2008 als neuen Staat anerkannt.

Auch hatte sie sich als eines der ersten Länder schon 2005 für die Unabhängigkeit des Landes ausgesprochen.

Zu der raschen Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo durch die Schweiz trug auch die grosse Zahl von Kosovaren in der Schweiz bei – heute sind es rund 170’000.

Die Schweiz setzt sich im Rahmen ihrer friedensfördernden Politik für die Rechte von Minderheiten und eine Versöhnung zwischen den dort lebenden Albanern und Serben ein.

Zudem unterstützt die Schweiz das Land bei der Sanierung der Infrastruktur, wie etwa der Wasser- und Stromversorgung, und fördert Projekte in der Berufsbildung und der Landwirtschaft.

Bilaterale Hilfe laut Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco):
2008: 51,4 Mio. Fr.
2009: 47,6 Mio. Fr.

Private Schweizer Investitionen im Kosovo sind bisher bescheiden. Sie beliefen sich 2008 laut Seco auf lediglich 26 Mio. Fr.

Weiter beteiligt sich Bern auch mit einigen Experten an der Mission der EU (EULEX).

Im militärischen Bereich ist die Schweiz seit 1999 mit der Swisscoy präsent, die zur NATO-Friedenstruppe KFOR gehört und derzeit 200 Soldaten umfasst.

Der Kosovo liegt auf dem westlichen Teil der Balkanhalbinsel. Er grenzt im Westen an Albanien, im Nordwesten an Montenegro, im Nordosten und Osten an Serbien und im Süden an die Republik Mazedonien.

Die parlamentarische Republik ist Mitglied im Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbankgruppe.

Die Bevölkerung wird auf rund 2,1 Millionen Einwohner geschätzt. Die Albaner sind grösstenteil Sunniten, eine Minderheit ist katholisch. Die rund 5% Serben sind orthodoxe Christen.

Im europäischen Vergleich sind die Einwohner sehr jung: Das Durchschnittsalter liegt bei 25,9 Jahren.

Amtssprachen sind Albanisch und Serbisch.

Der Kosovo war Jugoslawiens rückständigstes Gebiet und ist bis heute kaum in die Weltwirtschaft integriert. Ein Grossteil der Bevölkerung arbeitet in der Landwirtschaft.

Zahlungsmittel ist der Euro, im Norden ist der serbische Dinar weit verbreitet.

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