«Eine hässliche Geschichte»
Dass der seit fast zwei Jahren in Libyen festgehaltene Schweizer Max Göldi endlich wieder ein freier Mann ist, freut die Schweizer Presse. Weniger Freude zeigt sie über das Pokerspiel des libyschen Herrschers Muammar Gaddafi und fordert, Lehren daraus zu ziehen.
«Gaddafi genoss seine Geiselmacht bis zuletzt», titelt die Boulevardzeitung Blick, «Endlich frei», atmet die Berner Zeitung auf. Während es in der Neuen Zürcher Zeitung gross «Demut in Tripolis» und in der Neuen Luzerner Zeitung «Ehre und Demütigung» heisst, warnt die Aargauer Zeitung in ihrer Schlagzeile: «Kritik wird kommen.»
Für den Kommentator des Zürcher Tages-Anzeigers und des Berner Bunds ist die ganze Affäre Göldi «eine hässliche Geschichte». Der Albtraum ende wie ein Schmierentheater, «Micheline Calmy-Rey sitzt im Zelt mit Kidnapper Gaddafi und dessen Freund Berlusconi und muss gute Miene zum teuflischen Spiel machen. Gefeiert wird das Ende einer Erpressung».
Bücklinge, Bussgang, Zirkus im Zelt
Zur Freilassung von Göldi müsse die Schweiz nicht nur Bücklinge machen, sondern auch zahlen. Das Abkommen laufe auf eine Entschädigung für Gaddafis Sohn Hannibal hinaus, bedauern Tages-Anzeiger und Bund. «Doch wichtig ist jetzt, dass der Albtraum für Göldi und seine Familie ein Ende hat.»
Von einem «Bussgang von Calmy-Rey nach Tripolis» ist in der Berner Zeitung die Rede, der «erneut als Kniefall gewertet werden kann». Doch dies sei es wert gewesen, «um das bald zweijährige Tauziehen um menschliche Schicksale endlich zu beenden».
Für die BZ ist klar, dass solche symbolische Gesten unerlässlich zu sein scheinen, «um den libyschen Wüstensohn Muammar al Gaddafi milde zu stimmen».
A propos Wüstensohn: «Im Zelt mit Gaddafi», titelt die Basler Zeitung und kommentiert, in der Folge habe sich gezeigt, «dass man es bei Gaddafi mit einem unverbesserlichen Despoten zu tun hat».
Göldis Rückkehr sei nicht die angekündigte Formalität gewesen, schreibt die BaZ. «Stattdessen musste eine ganze Reihe europäischer Spitzenpolitiker zum Zirkus in seinem Zelt in Tripolis antanzen, damit der ABB-Mitarbeiter seine Ausreisepapiere erhielt».
Welsche Presse schärfer
Ähnlich oder noch schärfer kommentiert die Freiburger Zeitung La Liberté: «Entschuldigungen unter dem Zelt.» Die Schweiz trinke den Becher bis zum Satz aus, ärgert sich das Blatt und spricht von den beiden «Canossa-Gängen» von Hans-Rudolf Merz (2009) und Michelinie Calmy-Rey nach Tripolis.
Die Westschweizer Zeitungen 24 heures und Tribune de Genève sprechen vom «totalen Sieg» für das libysche Regime. Die Schweiz habe schreckliche Demütigungen in Kauf genommen: «Ein kleines Land, das den Frieden eines mächtigeren Tyrannen kauft.»
Und Le Temps bedauert, dass die Schweiz, die Hannibal Gaddafi behandelt habe wie irgendeinen Schurken, nicht einmal von sich behaupten könne, Bösewichten eine Präventivlektion gegeben zu haben, «welche ihre Untertanen brutal behandeln, ohne jemals Rechenschaft darüber geben zu müssen».
Europäischer Schutzschild
Während die welsche Presse der Schweizer Diplomatie in der Affäre Göldi generell kritischer gegenübersteht, gibt es zum Beispiel in der NZZ Lob: «Seit letztem Späzherbst hielt der Bundesrat in Sachen Libyen für einmal zusammen. Die Diplomatie fuhr konsequent und erfolgreich eine Strategie.
Der entscheidende Wendepunkt in der Tragödie sei die «forcierte Europäisierung» des bilateralen Streits im November 2009 gewesen, schreibt die NZZ weiter. «Der lange Weg aus der Sackgasse führte über Berlin, Brüssel und Madrid.»
Die europäische Solidarität habe gespielt, allerdings nur beschränkt: «Die EU-Staaten blieben immer Vermittler. Sie waren nie Partei und hätten nie ernsthaft ihre Interessen in Libyen für die Schweiz aufs Spiel gesetzt. Im Gegenteil: Es wurde Zuckerbrot, nicht Peitsche eingesetzt.» Aber wie auch immer: «Ein Glück, dass die Schweiz in Europa liegt», bilanziert die NZZ.
Lehren ziehen
Jetzt laufe schon die innenpolitische Aufarbeitung der Libyen-Krise, schreibt der Tages-Anzeiger und betont gleich, dass sich in diesem Fall eine Selbstzerfleischung nicht lohne. Denn: Gaddafi habe schon viel potentere Regierungsleute zum Narren gehalten.
Dieses Spiel könne er so lange treiben, als Staaten und Firmen um jeden Preis um Geschäfte mit dem infrastruktur-hungrigen Ölstaat buhlten. «Hier liegen die Lehren, die aus dem Geisel-Drama zu ziehen sind», so der Tagi.
Für die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Libyen und EU-Staaten sei Max Göldi nur ein Störfall gewesen, meint die Basler Zeitung. «Dabei müsste er ein Mahnmal sein: Die Lehre aus dieser Affärer kann nur sein, dass Politik und Industrie zu Gaddafis Libyen den gebotenen Sicherheitsabstand einihalten.»
Die Neue Luzerner Zeitung spricht die Wichtigkeit der Ehre in muslimischen Gesellschaften an.»In der Mischung mit einer Diktatur vom Zuschnitt Libyens kann sich dann aus verletztem Ehrgefühl ein für uns unfassbares Bedürfnis nach Erniedrigung ergeben. Das war die Lektion für Genf und Bundesbern, die dann terrormässig auf dem Buckel der Schweizer Geiseln Rachid Hamdani und Max Göldi ausgetragen worden ist.»
So gross die Freude über Göldis Rückkehr auch sei, «die Fehler der Schweiz, welche dessen Martyrium noch verlängerten, sind zu gross, als dass wir einfach zur Tagesordnung übergehen könnten, mahnt die Aargauer Zeitung.
Für den Corriere del Ticino ist jetzt klar, «dass wir nicht darum herum kommen, die enorme Wichtigkeit unserer Beziehungen mit der Europäischen Union zu anerkennen, wenn wir unsere Interessen erfolgreich verteidigen wollen». Und die Tessiner Zeitung Giornale del popolo rät: «Damit andere Schweizerbürger (und generell unsere Interessen) nicht das gleiche Schicksal erleiden wie Göldi, sollten wir unserer seltsamen, aber wertvollen Charakteristik eines neutralen Landes wieder Bedeutung beimessen.»
Eine bittere Lehre aus der ganzen Libyen-Affäre zieht schliesslich La Liberté: «Hören wir das libysche Sprichwort, wonach man in den Sand steckt, was nicht schön zu sehen ist.»
Jean-Michel Berthoud, swissinfo.ch
15. Juli 2008: Hannibal Gaddafi und seine Frau Aline werden in einem Genfer Hotel festgenommen wegen Verdachts auf Misshandlung von Hausangestellten. Zwei Tage später werden sie gegen Kaution aus der Polizeihaft entlassen.
Juli 2008: In Libyen werden zwei Schweizer Geschäftsleute festgenommen wegen angeblicher Verstösse gegen Einwanderungs- und andere Gesetze.
Januar 2009: Ein Treffen von Bundesrätin Calmy-Rey mit dem Gaddafi-Sohn Saif al-Islam Gaddafi am WEF bringt keinen Durchbruch.
April 2009: Libyen und das Ehepaar Gaddafi reichen eine Zivilklage gegen den Kanton Genf ein.
Juni 2009: Libyen zieht die meisten seiner Gelder von Schweizer Bankkonten ab.
August 2009: Bundespräsident Hans-Rudolf Merz entschuldigt sich in Tripolis beim libyschen Regierungschef Al Mahmudi. In einem Vertrag will man die bilateralen Beziehungen wieder herstellen und ein Schiedsgericht einsetzen.
September 2009: Merz trifft Gaddafi in New York. Dieser versichert ihm, sich persönlich für die Freilassung der Festgehaltenen einzusetzen.
Später werden die beiden Schweizer während einer ärztlichen Kontrolle an einen unbekannten Ort gebracht.
November: Der Bundesrat sistiert das Abkommen mit Libyen. Die restriktiven Visa-Massnahmen gegenüber Libyern bleiben. Die beiden Schweizer werden wieder auf die Botschaft in Tripolis gebracht.
Dezember: Die Beiden werden wegen Visavergehen zu je 16 Monaten Haft und rund 1600 Fr. Busse verurteilt. Später werden diese Urteile gemildert.
14. Februar 2010: 188 Libyer sind im Schengen-Computer-System auf der schwarzen Liste und erhalten kein Visum.
22. Februar 2010: Max Göldi wird von den libyschen Behörden ins Gefängnis gebracht. Rachid Hamdani verlässt Libyen und trifft am 23. Febebruar in der Schweiz ein.
25. März 2010: Die Schweiz hebt (oder reduziert drastisch) ihre «schwarze Liste» mit libyschen Staatsbürgern.
28. März 2010: Libyen und die EU kündigen die Aufhebung der Visaeinschränkungen beider Seiten an.
10. Juni 2010: Max Göldi kann das Gefängnis verlassen und erhält seinen Pass.
13. Juni 2010: Nach fast 2 Jahren mit Zwangsaufenthalt und Haft kann Max Göldi Libyen verlassen.
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