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«Eine Zeit der Instabilität steht bevor» – Populismus-Expertin Yanina Welp über Javier Mileis Triumph in Argentinien

Javier Milei gibt Fans die Hand
Der neu gewählte Präsident Argentiniens gibt Unterstützer:innen die Hand kurz vor seiner Siegesrede in Buenos Aires. Keystone / Juan Ignacio Roncoroni

Der neugewählte Präsident von Argentinien verspricht einen Um- und Abbau des Staates, die "Dollarisierung" und einen radikalen Bruch mit der bisherigen Regierung. Die Genfer Politikwissenschaftlerin Yanina Welp erklärt die Hintergründe seines Siegs – und was Argentinien jetzt erwartet.

SWI swissinfo.ch: Javier Milei ist mit einem klaren Sieg in der Stichwahl, 11% vor seinem Gegner, dem bisherigen Wirtschaftsminister Sergio Massa, zum Präsidenten von Argentinien gewählt worden. Überrascht Sie dieses Ergebnis?

Yanina Welp: Ich bin von der Klarheit überrascht, aber nicht vom Ergebnis selbst. Die jetzige Regierung hinterlässt ein sehr schlechtes wirtschaftliches und soziales Erbe, und der bisherige Wirtschaftsminister scheiterte daran, sich von dieser Regierung abzugrenzen. Trotzdem bleibt die Deutlichkeit eine Überraschung, weil die Meinungsumfragen keinen solchen Abstand hergaben.

Yanina Welp blickt in die Kamera
Die Politwissenschaftlerin und Lateinamerika-Expertin Yanina Welp ist Research Fellow am Albert Hirschman Centre on Democracy am Graduate Institute in Genf. graduateinstitute.ch

SWI: Vor 40 Jahren endete die argentinische Militärdiktatur – und nun wählten die Argentinier:innen einen Präsidenten, der die Verbrechen dieses Regimes kleinredet oder verleugnet. Was sind die Gründe dafür?

YW: Ich glaube nicht, dass die Schlüssel zum Verständnis dieser Wahl in der Kluft zwischen Demokratie und Autoritarismus zu finden sind, wie es die jetzige argentinische Regierung darstellen wollte, sondern im Prinzip des Wechsels. Die Bevölkerung ist müde und wählte den Wandel, ohne mögliche negativen Folgen zu bedenken.

SWI: Der neugewählte Präsident Milei nennt sich selbst einen Anarchokapitalisten. Wie würden Sie seine Politik beschreiben?

YW: Nicht anwendbar und nicht wünschbar.

SWI: Wenn man Javier Milei als Populisten betrachtet, unterscheidet ihn etwas von anderen Populist:innen: Er ist parallel dazu ein Wirtschaftsexperte. Wie beeinflusst seine Expertenposition die Art, wie Menschen ihn und seine politischen Ansichten wahrnehmen?

YW: Ich glaube nicht, dass ein Abschluss in Wirtschaftswissenschaften jemanden zum Wirtschaftsexperten macht. Was ich glaube ist, dass ein kompliziertes technisches Vokabular, gepaart mit sehr aggressiver Wortwahl und vereinfachenden Slogans, die Unterstützung erklären kann, die er von einigen Teilen der Bevölkerung erhalten hat – insbesondere von den jungen Wähler:innen. Andere unterstützten ihn wegen seiner Ablehnung des Peronismus. [Anmerkung: Der unterlegene Sergio Massa vertrat das peronistische Bündnis.]

Feiernde Fans von Javier Milei mit Wikinger-Axt
Unterstützer von Javier Milei feiern ausgelassen vor einer argentinischen Flagge. Copyright 2023 The Associated Press. All Rights Reserved

SWI: Wurde Milei wegen seiner wirtschaftlichen Versprechen gewählt?

YW: Die Leute, die ihn wählten, wollen einen radikalen Wechsel. Wenn sie nach kontroversen Punkten in seinem politischen Programm gefragt wurden, war die häufigste Antwort «Das wird er nicht wirklich tun». Mileis Triumph ist dem Versagen der politischen Elite zu verdanken, die das Land 20 Jahre regiert hat.

SWI: Unter anderem forderte Milei in seiner Kampagne die Abschaffung der Zentralbank und vieler Regierungsministerien, darunter auch jene für Gesundheit und Wissenschaft. Wie einfach kann der neue Präsident Institutionen abschaffen oder umbauen?

YW: Es gibt Dinge, die sehr schwierig umzusetzen sind. Zum Beispiel die «Dollarisierung», also den Dollar als Währung einzuführen – dies könnte verfassungswidrig sein.

Für andere Pläne braucht er die Unterstützung des Parlaments, die sein Parteienbündnis Libertad Avanza im Prinzip nicht hat. Obwohl für Mileis Sieg die Unterstützung von Mauricio Macri, des ehemaligen Präsidenten von 2015 bis 2019, entscheidend war, garantiert ihm das nicht die nötige Unterstützung bei Gesetzesvorhaben. Innerhalb der bisher prägenden Bündnisse wird es Bewegungen in viele Richtungen geben. Ich glaube, dass eine Zeit der Instabilität bevorsteht.

Der erste Wahlgang in Argentinien fand am 22. Oktober statt. Hier berichten Auslandschweizer:innen, wie es war, am selben Tag in zwei so verschiedenen Ländern zu wählen:

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