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«Unsere Programme in Nicaragua sind praktisch zum Stillstand gekommen»

Eine Person trägt eine Maske und hält ihren rechten Arm in die Luft
Ein Regierungsgegner tut seine Unmut während einer Demonstration gegen Präsident Daniel Ortega in Nicaraguas Hauptstadt Managua kund. Keystone

Nach Monaten der Proteste und der Gewalt ist die Bevölkerung Nicaraguas tief gespalten. Die Stimmung im Land, das einst als eines der stabilsten in Zentralamerika galt, beschreiben Kenner als polarisiert und "toxisch". Dies hinterlässt auch Spuren in den Büros und Programmen der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit.

Infolge des Konflikts mussten sowohl das Kooperationsbüro der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) in Managua als auch die Büros der Schweizer Entwicklungsorganisation ComundoExterner Link ihre Arbeitsweise und ihre Programme anpassen. Die DEZA und das Schweizer Konsulat leiten einen Krisenstab, in dem etwa zehn in Nicaragua ansässige Schweizer Organisationen beteiligt sind.

Ortegas brutaler Machtkampf

Mehrere Hundert Tote und über 1000 Verletzte. Das ist die Bilanz der bisherigen Proteste, die im April durch Demonstrationen gegen eine inzwischen zurückgezogene Rentenreform ausgelöst und von regierungsnahen paramilitärischen Gruppen gewaltsam unterdrückt wurden.

Die Demonstrationen weiteten sich im Zuge der Proteste auch gegen die Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit sowie gegen die staatlich ausgeübte Gewalt aus. Auch ausserhalb von Managua haben Demonstrationen stattgefunden.

Jetzt fordern Vertreter der Zivilgesellschaft den Rücktritt des sandinistischen Präsidenten Daniel Ortega, während andere den ehemaligen Revolutionsführer weiterhin unterstützen.

«Diese plötzliche Krise kam für viele überraschend», sagt Alice Froidevaux, Koordinatorin des Lateinamerika Zentrums der Universität Zürich. Sie sei jedoch aufgrund der autoritären Tendenzen Ortegas und der wachsenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung auch voraussehbar gewesen.

Froidevaux hat ihre Doktorarbeit zur Bauernbewegung in Zentralamerika geschrieben. Sie weiss über ihre Kontakte in Nicaragua und aus Social-Media-Plattformen, wie «toxisch und aufgeladen» die Stimmung im Land ist, wie «extrem das Schwarz-Weiss-Denken». Menschen in Nicaragua müssten sich für oder gegen Ortega entscheiden. «Man schafft es kaum, sich da rauszuhalten, alle wollen wissen, auf welcher Seite stehst du. Die Emotionalität ist sehr hoch.»

Erschwerend käme der wachsende Notstand in der Gesellschaft hinzu. «Nicaragua ist ein Land mit hoher Armut, wo die Menschen wenig auf der Seite haben. Ich habe Freunde, die wegen der Sicherheitslage und der Strassensperren nicht zur Arbeit können. So kommt es schnell zu einer humanitären Krise.»

«Der Konflikt ist für alle Nicaraguaner und Nicaraguanerinnen eine Belastung, worunter auch unsere 35 Mitarbeitenden leiden», sagt Edita Vokral, Chefin des Kooperationsbüros der DEZA in Managua. «Dem persönlichen Gespräch mit den Mitarbeitenden und der gemeinsamen Lageanalyse wird viel Raum gegeben.»

Comundo betreibt auch zwei Büros ausserhalb der Hauptstadt Managua. Der Comundo-Hauptsitz in Luzern hat den Angestellten ein Coaching per Skype angeboten, um mit der extremen Stresssituation umgehen zu können. In allen Organisationen wurden die Arbeitszeiten angepasst, viele arbeiten zuhause.

Tägliches Krisenmanagement

Für alle Mitarbeiter dieser Büros gelte der «Grundsatz der Unparteilichkeit». «Wir verzichten strikte darauf, uns öffentlich zu äussern oder an Demonstrationen teilzunehmen», sagt Comundo Landeskoordinator Frédéric Coppens, der in Esteli, im Norden Nicaraguas, stationiert ist.

Comundo, das auch finanzielle Unterstützung von der DEZA erhält, arbeitet vor allem mit lokalen Nichtregierungsorganisationen und sozialen Bewegungen, wie Bauerngewerkschaften und Frauenverbänden. Ihre Partnerorganisationen stehen sich heute auf beiden Seiten der Kluft gegenüber. «Bis April konnten wir Räume für einen offenen und respektvollen Dialog zwischen ihnen fördern. Ich glaube jedoch nicht, dass dies weiterhin möglich sein wird.»

Die drei Programme von Comundo seien «praktisch zum Stillstand gekommen», sagt Coppens. «Wir mussten alle seit dem 18. April geplanten Programmaktivitäten absagen. Wir machen Krisenmanagement, Tag für Tag.»

Projekte «auf Eis gelegt»

Mitte Mai hatte das Eidgenössische Amt für auswärtige Angelegenheiten (EDA) in einer StellungnahmeExterner Link angekündigt, die Schweiz müsse angesichts des Konflikts die Lancierung des Kooperationsprogramms 2018-2021 «bis auf Weiteres» verschieben. Auf Anfrage präzisiert das EDA, man habe der Regierung mitgeteilt, die Schweiz wolle ihre Zusammenarbeit mit Nicaragua überdenken.

Eine Reihe von Massnahmen seien bereits getroffen worden: Auszahlungen an staatliche Projektpartner wurden temporär sistiert und Projekte in Planungsstadium sind «auf Eis gelegt». Zudem habe das Kooperationsbüro Finanzmittel zurückgefordert. Weitere einschneidende Anpassungen am gesamten Programm seien im Gange.

«Ein Engagement in Nicaragua macht nur solange Sinn, als ein Entfaltungsraum (space for development) für nichtstaatliche Organisationen besteht und zu Themen wie Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit gearbeitet werden kann», sagt Vokral. Dies erfordere nebst dem Dialog mit der Regierung, die Möglichkeit der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft, dem Privatsektor und internationalen Menschenrechtorganisationen. Dies sei zurzeit noch der Fall.

Zusammenarbeit in fragilen Ländern

Die Schweiz leistet seit Anfang der 1980er-Jahre in Nicaragua Entwicklungshilfe. Das Land galt lange als stabil und sicher. Der «Fragile States IndexExterner Link» ist eine Rangliste von 178 Ländern mit 12 Indikatoren zu den Risiken und Schwächen, welchen sie ausgesetzt sind. In den vergangenen fünf Jahren konnte sich Nicaragua in diesem Ranking verbessern und belegt nun Platz 75. Südsudan und Afghanistan, wo die DEZA auch tätig ist, belegen Platz 1 respektive Platz 9.

Ein Mann in einem weissen Hemd winkt inmitten eines roten Fahnenmeers.
Ortega lässt sich von seinen Anhängern feiern. Die Stimmung im Land ist polarisiert. Proteste von Kritikern lässt er von Polizei und Paramilitärs niedergeschlagen. Keystone

Für Coppens von Comundo ist Nicaragua «ein sehr gutes Beispiel dafür, wie anfällig eine nicht nachhaltige Entwicklung ist. Wirtschaftlich war das Wachstum Nicaraguas in den letzten zehn Jahren beneidenswert. Doch Jahr für Jahr war das Gleichgewicht im Bereich der Menschenrechte und der Umwelt zunehmend negativ.»

Vokral ortet die latente Fragilität von Ländern wie Nicaragua in der mangelnden demokratischen Legitimation der Institutionen, «die nicht von der breiten Bevölkerung getragen werden und in deren Dienste stehen.» Das mache Länder wie Nicaragua krisenanfällig, «auch wenn sie gegen aussen sehr stabil wirken».

Seit einigen Jahren steigt der politische Druck auf die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit sich vermehrt in sogenannten «fragilen Kontexten» zu engagieren. Dieser erfordere von der Entwicklungszusammenarbeit in diesen Einsatzländern, mögliche Veränderungen zu antizipieren, um flexibel darauf reagieren zu können. «Das haben wir auch in Nicaragua gemacht», sagt Vokral. «Unsicherheit bietet auch die Chance unsere Zusammenarbeit neu zu positionieren und aus vorgespurten Pfaden auszubrechen.»

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