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«Es ist schwierig, Deutschen die Neutralität zu erklären»

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SWI swissinfo.ch besucht den Schweizer Verein Berlin und diskutiert mit den Mitgliedern die Schweizer Politik 2023. Protokoll eines aufschlussreichen, lebendigen Abends.

Es ist ein launiger, sommerlicher Abend. Der hektische Puls Berlins hat sich etwas gesenkt angesichts der Ferienzeit, die ansteht. Im Restaurant Mola, im sonst umtriebigen Zentrum von Berlin, direkt neben dem Kaufhaus des Westens, trifft sich der Schweizer Verein Berlin zum Stammtisch, der immer am ersten Mittwoch des Monats stattfindet.

Entspanntes Plaudern auch hier in einer Atmosphäre routinierter Freundschaft. Das Treffen ist schweizerisch, ohne Überschwang, aber auch von einer Offenheit, die jeder Weltstadt gerecht wird.

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An diesem Juli-Stamm darf swissinfo.ch zu Gast sein. Wir wollen eine Polit-Diskussion über die Schweiz führen und entern das Treffen, um zu spüren, was die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer in der deutschen Hauptstadt wenige Monate vor den eidgenössischen Wahlen beschäftigt.

Die Themen der Diskussionsrunde mit zehn Teilnehmenden sind gesetzt. Es geht um die Schweizer Neutralität, um das Verhältnis Berns zu Brüssel und um die Schweizer Banken.

Welches Image hat die Schweiz?

Die Frage, die alle drei Themen umklammert, ist: Welches Image hat die Schweiz im Moment im Ausland? Und wie spüren Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer die veränderte Grosswetterlage, also die Zeitenwende, die der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufen hat?

Bereits beim Thema Neutralität gerät die Runde in Fahrt. Die Mehrheit am Tisch bezeugt zunehmend Mühe mit der zögerlichen Schweizer Unterstützung der Ukraine. «Es ist schwierig geworden, meinen deutschen Freunden zu erklären, warum die Schweiz ihre Neutralität so hochhält», sagt die ehemalige Journalistin Isabel Baumberger, die im Pensionsalter nach Berlin ausgewandert ist.

Unverständliche Neutralität

«Dass die Schweiz keine Waffen liefert, versteht man. Aber dass sie anderen Ländern verbietet, Waffen weiterzugeben, das versteht niemand», sagt sie.

Isabel Baumberger im Video-Interview:

Ein anderes Argument von einem Schweizer, der im Immobiliengeschäft tätig ist: «Wir sind für unsere Sicherheit darauf angewiesen, dass andere mit uns zusammenarbeiten.»

Die Schweiz könne nicht mehr einfach sagen, dass sie ihre Hellenbarden selber schmiede. «Es war alles sehr bequem, aber wir können nicht mehr Trittbrettfahrer in der europäischen Sicherheitsarchitektur sein.»

Kunstmaler Rudolf Stüssi sagt: «Die Neutralität kommt mir vor wie Sand, in den man den Kopf hineinstecken kann.»

Sehen Sie hier unser Video-Interview mit Rudolf Stüssi:

Ergänzend dazu eine Stimme am Tisch: «Einerseits schäme ich mich für das Verhalten in Sachen Ukraine-Krieg, andrerseits bin ich noch nie so patriotisch gewesen wie in den fünf Jahren, seit ich in Berlin bin, zum Beispiel wegen der direkten Demokratie.» Das gehe allen Auslandschweizer:innen so, schliesst jemand.

Es gibt aber auch das Gegengewicht – mindestens eine Person, die – durch und durch rechtskonservativ – noch mehr Zurückhaltung fordert. Ein Rentner am Tisch beruft sich auch auf Niklaus von Flüe, der im 15. Jahrhundert gemahnt haben soll: «Mischt euch nicht in fremde Händel.»

Das habe sich aber auf das Schweizer Söldnertum bezogen, rückt ein Dritter die Erzählung zurecht. «Für uns Schweizer war es bisher immer von Vorteil, neutral zu sein. Aber wir können nicht nur einfach profitieren», sagt eine Rentnerin.

In der Landschaft der Schweizer Vereine im Ausland ist Berlin wohl einer der aktiveren. Der Verein Externer Linkbesteht seit 1861 und zählt heute 221 Mitglieder, der Vereinskalender zählt mehr als ein Dutzend Anlässe pro Jahr.

Es zeigt sich in allen Themen, dass diese Runde an diesem Tisch bestens informiert ist, nicht nur über die Schweizer Aussenpolitik, sondern durchaus auch über die Feinheiten und Details der Schweizer Innenpolitik.

Auch bei der Frage nach dem Verhältnis zwischen Bern und Brüssel verläuft die Debatte entlang dem klassischen Links-Rechts-Schema, wobei auf der rechten Seite durchaus kreative Ideen propagiert werden: Etwa jene, dass die Schweiz die Aufgabe habe, die Abschaffung der EU in die Hand zu nehmen, wie Juristin Regula Heinzelmann vorschlägt.

Sehen Sie hier unser Video-Interview mit Regula Heinzelmann:

Auffallend ist, dass niemand an diesem langen schmalen Tisch einen Beitritt der Schweiz zur EU befürworten würde. Die Auslandschweizer:innen in der deutschen Hauptstadt haben die Vorteile der EU durchaus zu schätzen gelernt, sie sehen aber auch Herausforderungen. Und zu viel Zentralismus herrsche dort.

«Wir können nicht mitreden»

Typisch schweizerisch auch die Aussage eines Gesprächsteilnehmers, er könne sich einfach nicht entscheiden, was das Beste für die Schweiz sei. Er sei hin- und hergerissen. Und folglich auch beim Thema EU neutral, wie die Schweiz. «Ich sehe immer, dass die Schweiz eigentlich das beste EU-Mitglied ist, aber wir können dummerweise nicht mitreden», sagt er.

Der aktuell vom Bundesrat eingeschlagene Weg, neue bilaterale Abkommen anzustreben, findet breite Zustimmung, solange die Regierung verhindere, dass der Europäische Gerichtshof als letzte regelnde Instanz gesetzt werde.

Die wichtigsten Themen

In einer kurzen Zwischenrunde fragen wir nach dem wichtigsten Thema, das die Schweizer Politik in den nächsten vier Jahren anpacken muss?

Die Antworten:
«Europa und die EU-Frage»
«Föderalismus stärken»
«E-Voting»
«Solidarität mit andern Ländern»
«Einfluss auf Europa nehmen»
«Klimakatastrophe verhindern»

Beschäftigt hat auch die grosse neue UBS, welche nach einem Bank Run auf die Credit Suisse geschaffen wurde. Drei Voten dazu:
«Es kann nicht sein, dass Boni ausbezahlt werden, obwohl Unsummen vernichtet werden.»
«Eine solche Bank ohne Bedingungen, das ist absurd.»
«Banken müssen pleite gehen können.»

Hat das Image der Schweiz gelitten? Der Schweizer Rentner, der sich auf Niklaus von Flüe bezogen hat, sagt: «Wir sollten vermehrt in die Schweiz hineinhorchen und die Frage stellen, wohin wir wollen mit diesem Land. Wenn wir das machen, geraten wir automatisch auf einen guten Weg, auch international gesehen.»

Rentnerin Elisabeth Schiavone im Video-Interview:

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