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EU legt Bedingungen gegenüber der Schweiz fest

In der Sackgasse: Die Beziehungen Schweiz-EU. Keystone

Die besonderen Beziehungen mit der Schweiz stecken in einer "Sackgasse". Dieses Fazit zieht die EU in einer Liste mit Forderungen, die es zu erfüllen gelte, um voran zu kommen. Sie warnt, ohne eine Lösung im institutionellen Bereich werde es keine neuen Verhandlungen geben.

Die Transport- und Energieminister der Europäischen Union (EU) haben am Donnerstag ihre «Schlussfolgerungen zu den Beziehungen mit der Schweiz» verabschiedet. Der ohne weitere Diskussionen verabschiedete Text wird das «Alpha und Omega» sein für die weitere Entwicklung der besonderen Beziehungen der EU zur Schweiz, die heute auf einem Knäuel von mehr als 200 bilateralen und sektoriellen Abkommen fussen.

Die von EU-Experten vorbereiteten Schlussfolgerungen zeichnen in rund einem Dutzend Punkten eine ziemlich genaue Bestandesaufnahme der bilateralen Beziehungen und machen die Bedingungen klar, unter denen Fortschritte erzielt werden können.

Allem voran wird nochmals betont, dass die bilateralen Beziehungen im Binnenmarkt-Bereich in einer «Sackgasse stecken, teilweise weil die institutionellen Fragen noch immer offen sind».

Unabhängiger Mechanismus

In der Tat fordert die EU von der Schweiz seit mehreren Jahren, einem institutionellen Rahmen zuzustimmen, der vor allem eine «dynamische Anpassung der Abkommen an das sich weiter entwickelnde EU-Recht sowie die homogene Anwendung der Abkommen» anpeilt. Zudem will Brüssel einen «unabhängigen Mechanismus zur Überwachung und zur Umsetzung von rechtlichen Entscheiden» sowie einen «Mechanismus zur Lösung von Streitigkeiten».

Bisher hängt – theoretisch – jede Weiterentwicklung des EU-Rechts – vom guten Willen des Schweizer Gesetzgebers ab. In der Tat werden solche Weiterentwicklungen grundsätzlich ohne grossen Widerstand übernommen.

Laut Bundespräsidentin Eveline Widmer-Schlumpf hat die Europäische Union anerkannt, dass der bilaterale Weg weitergehe. Der Staatenverbund habe lediglich gewisse Vorbehalte angemeldet. In gewissen Bereichen wolle die EU durchaus weiter verhandeln, auch wenn es wohl nicht hundert weitere sektorielle Abkommen geben werde.

Die Frage, wie die Beziehungen zur EU auszugestalten seien, werde die Schweiz auch im kommenden Jahr beschäftigen, sagte Widmer-Schlumpf. Es handle sich aber um einen Prozess.

Auch Volkswirtschaftsminister Schneider-Ammann dementierte das Ende der Bilateralen: «Ich bin überzeugt, dass es weiterhin möglich ist und auch sein muss, den bilateralen Weg weiterzugehen.» Für die Kritik Brüssels an der Anrufung der Ventilklausel zeigte er Verständnis. Die Schweiz nehme die Vorwürfe ernst.

Für das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) sind die Schlussfolgerungen der EU eine Basis, um neue Gespräche zu beginnen, wie EDA-Informationschef Jean-Marc Crevoisier sagte. «Wir sind froh, eine Antwort zu haben.»

Verschärfter Text

Aber die EU will mehr Sicherheit. Sie warnt daher, aus ihrer Sicht könnten keine Verhandlung über die Teilnahme der Schweiz am EU-Binnenmarkt mehr abgeschlossen werden, «wenn diese Frage nicht gelöst wird». Der Text wurde in dem Bereich übrigens verschärft. In einer früheren Version war noch von «bedeutenden Fortschritten» die Rede gewesen.

Weiter schreibt die EU: «Jede Weiterentwicklung dieses komplexen Systems würde die Rechtsunsicherheit vergrössern». Sie würde nicht nur die Homogenität des Binnenmarkts bedrohen, sondern auch die Beziehung der EU mit ihren Partnern im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) in Mitleidenschaft ziehen. Wie die EU ist auch Norwegen erzürnt über die Schweiz, die auf einem Massanzug besteht.

Die EU setzt noch einen drauf: Sie ist der Ansicht, die Verbindungen der Schweiz zur EU seien nicht mehr länger nur ein bilaterales Engagement, sondern die Schweiz sei Teil eines «multilateralen Projekts». Kurz gesagt, das Fazit ist klar. Es muss sich jetzt etwas ändern.

In einem Brief hatte Bundespräsidentin Eveline Widmer-Schlumpf im vergangenen Sommer der EU Vorschläge für – verhandelbare – Lösungen unterbreitet. Die EU hatte dieses Vorgehen begrüsst. Als Antwort insbesondere auf Forderungen der EU, das bisherige Kontroll- und Überwachungssystem zu rationalisieren und zu verbessern, das durch ein langwieriges und wenig effizientes System von Diskussionen in gemischten Komitees geprägt ist, hatte die Schweiz vorgeschlagen, ein nicht-europäisches, nationales, von Regierungen unabhängiges System einzurichten.

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Bumerang-Effekt

Die EU hat diesen Ansatz aber verworfen, sie will einen «internationalen Mechanismus für Überwachung und gerichtliche Kontrolle». Mehrere EU-Quellen haben gegenüber swissinfo.ch eingeräumt, nicht genau zu wissen, was diese eher vage Terminologie umfasse. Im Dokument wird weiter unten präzisiert, der «institutionelle Rahmen müsste ein Niveau an Sicherheit und Unabhängigkeit bieten, das den Mechanismen entspricht, die im Rahmen des EWR geschaffen wurden».

Die Frage kommt also kurz nach dem 20. Jahrestag der Ablehnung des Beitritts zum EWR durch das Schweizer Stimmvolk wie ein Bumerang zurück.

Trotz allem betont die EU, die Weiterführung des Dialogs mit der Schweiz, ihrer viertgrössten Handelspartnerin, sei ihr wichtig. Sie ersucht die Kommission, ihr über Fortschritte bei den Diskussionen zu berichten, die zu einer «Empfehlung führen könnten, neue Verhandlungen mit der Schweiz aufzunehmen».

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Einschränkungen bei Freizügigkeit nicht goutiert

Neben dem institutionellen Rahmen enthalten die Erkenntnisse der EU auch Kritik an der Schweiz. Zuerst was das  Abkommen über die Personenfreizügigkeit angeht: Die EU «bedauert, dass die Schweiz die Ventilklausel für 8 Staaten angewendet» habe (grundsätzlich für Länder aus dem früheren Ostblock).

Eine Massnahme, die klar gegen das Abkommen verstosse. Zudem verlangt die EU auch die Aufhebung anderer Begleitmassnahmen wie die so genannte «8-Tage-Regel», die Verpflichtung, dass Handwerker aus EU-Staaten, die zur Arbeit (Renovation, Baut etc.) in die Schweiz kommen, acht Tage vor Aufnahme der Arbeit angemeldet werden müssen.

Und natürlich fehlt im Text auch der Hinweis auf den Streit über die kantonalen Unternehmenssteuern nicht, ein Thema, bei dem sich Bern und Brüssel seit langem in den Haaren liegen.

Neuer Check aus der Schweiz

Brüssel verweist auch auf das Engagement der Schweiz im Zusammenhang mit der EU-Erweiterung, eine Entwicklung, von der auch sie profitiert, und zwar aufgrund der bilateralen Abkommen, die den Zugang von Schweizer Unternehmen auf den EU-Markt erleichtern. Die Schweiz hat die Erweiterung bisher mit 1,257 Milliarden Franken unterstützt, während einer Periode von fünf Jahren, die im Juni 2012 abgelaufen ist. «Erste Untersuchungen zeigen, dass dieser Mechanismus erfolgreich war», schätzt die EU, die ihre Exekutive, die EU-Kommission ersucht, Sondierungsgespräche in die Wege zu leiten für einen weiteren Beitrag der Schweiz.

Die Liste der Missstände aus EU-Sicht schliesst mit einer unerwarteten,  spitzen Bemerkung im Zusammenhang mit der EU-Aussenpolitik. Die 27 EU-Staaten haben gegen Iran eine Reihe Sanktionen verhängt, unter anderem ein Öl-Embargo. Die EU wirft der Schweiz – die in Iran die Interessen der USA vertritt – vor, dass sie sich diesen Sanktionen nicht angeschlossen habe. Bern wird aufgefordert, die «notwendigen Massnahmen zu ergreifen, um jegliche Umgehung der EU-Sanktionen zu verhindern».

Die «Schlussfolgerungen über die Beziehungen zur Schweiz» wurden unter Punkt A, ohne Diskussion, vom Rat der EU-Transportminister verabschiedet. Es war die erste Ratssitzung, nachdem der Text das grüne Licht der EU-Botschafter erhalten hatte.

Mit dem Dokument hatten sich zuvor Experten der EU-Staaten an mehreren Treffen mit Vertretern der EU-Kommission befasst. Und davor hatten diese den Schweizer EU-Botschafter Roberto Balzaretti zu einer Anhörung empfangen.

Der Text wird als Basis für einen Brief von EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und der EU-Aussenbeauftragten Catherine Ashton gegen Ende Jahr an den Bundesrat (Schweizer Regierung) dienen, als Antwort auf das Schreiben der Schweizer Bundespräsidentin Eveline Widmer-Schlumpf an die EU vom vergangenen Juni.

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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