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«Europa braucht einen grossen Investitionsplan»

In Griechenland haben die Sparmassnahmen zu politischer und sozialer Instabilität geführt. AFP

Bernadette Ségol, die oberste Gewerkschafterin Europas, begrüsst den Entscheid der EZB, Anleihen im Wert von über einer Billion Euro aufzukaufen. Das werde aber nicht ausreichen, um den alten Kontinent aus der wirtschaftlichen Talsohle zu führen, erklärte sie am Rande des WEF in Davos.

Ségol, Generalsekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbunds (EGB), war zum dritten Mal in Folge an das Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos eingeladen. Dabei prangerte sie erneut die Sparprogramme an, die aus ihrer Sicht eine Bedrohung für Europa sind.

Schuldenrückkauf für über eine Billion Euro

Die Europäische Zentralbank (EZB) wird bis Ende September 2016 jeden Monat Staats- und Privatanleihen aus den Euro-Ländern im Wert von bis zu 60 Milliarden Euro aufkaufen. Das gab EZB-Chef Mario Draghi am 22. Januar bekannt. Das Kaufvolumen dürfte bis zu etwas mehr als eine Billion Euro erreichen.

Mit dieser Massnahme, die als quantitative Lockerung (Quantitative Easing, QE) bezeichnet wird, soll das Wachstum angekurbelt und die Gefahr von Deflation bekämpft werden.

Der Aufkauf von Staatsanleihen wird als letztes Mittel einer Zentralbank betrachtet, um die Konjunktur wieder in Schwung zu bringen.

swissinfo.ch: Gemäss einem diese Woche veröffentlichten ILO-Bericht gingen seit der Finanzkrise von 2008 rund 61 Millionen Stellen verloren und die Tendenz dürfte bis Ende des Jahrzehnts andauern, vor allem in Europa. Gibt es wirklich keine Mittel, diese Entwicklung zu bremsen?

Bernadette Ségol: Zweifellos gibt es Rezepte, und es ist höchste Zeit, diese zu nutzen. Europa braucht dringend einen grossen Investitionsplan. Dieser sollte rund 2% des europäischen Bruttoinland-Produkts (BIP) umfassen, also gegen 250 Mrd. Euro pro Jahr während 10 Jahren.

Das Ziel muss sein, Europa an die Spitze der Umweltindustrie zu bringen, sei dies im Bereich Energie, bei der Renovation von Gebäuden oder mit sauberen, umweltfreundlichen Verkehrsträgern.

Die EU-Kommission plant, über drei Jahre Investitionen von 315 Milliarden Euro auszulösen. In unseren Augen ist dies eindeutig zu wenig, um die Beschäftigung wirklich anzukurbeln. In der Tat hatte Europa in den letzten Jahren ein Investitionsdefizit, das zwischen 270 und 510 Milliarden pro Jahr betrug.

Darüber hinaus brauchen wir eine andere europäische Wirtschaftspolitik. Denn in der Tat sind die Austeritäts-Programme und brutalen Kürzungen der öffentlichen Ausgaben verantwortlich für die Stagnation in Europa.

swissinfo.ch: Wenn die Sparpolitik nicht funktioniert, wieso beharren die EU und die nationalen Regierungen weiterhin auf diesem Kurs?

B.S.: Weil ein kleiner Teil der Bevölkerung, die Reichsten, von diesen Sparprogrammen profitiert. Diese Leute haben ein Interesse daran, in einer Gesellschaft zu leben, die von den Marktregeln diktiert wird.

Ich bin für gesunde Staatsfinanzen, aber man kommt nicht umhin, festzustellen, dass die bisher verfolgte Politik nur dazu geführt hat, die Nachfrage zu ersticken, ohne jedoch die Schulden zu senken. Im Gegenteil, in Griechenland zum Beispiel stiegen die Schulden von 120% des BIP nach der Finanzkrise auf 175% im vergangenen Jahr.

swissinfo.ch: Müsste man nicht eher den zu starken Schutz für europäische Arbeitnehmer und den wenig flexiblen Arbeitsmarkt in Frage stellen?

B.S.: In den vergangenen Jahren kam es in vielen europäischen Ländern zu Strukturreformen. Man hat die Löhne gesenkt, den Schutz für Arbeitnehmer verringert und noch mehr prekäre Verträge eingeführt. Doch solche neuen Arbeitsstellen lassen die Arbeitnehmer nur ärmer werden; sie ermöglichen ihnen nicht, ein anständiges Leben zu führen. Ist dies wirklich das, was wir wollen?

swissinfo.ch: Junge Menschen sind besonders von der Arbeitslosigkeit betroffen. Sollte man nicht in erster Linie das Ausbildungssystem überprüfen, das in zahlreichen europäischen Ländern Universitätsstudien den Vorzug gibt?

B.S.: Die Situation der jungen Arbeitslosen ist schwerwiegend, ja verzweifelt. Ich habe kein Problem damit, zu sagen, dass man das System von Ausbildung und Lehre überdenken sollte. Aber das erfordert eine starke öffentliche Politik, und damit auch Geld.

Bernadette Ségol schätzt, dass die zunehmende Ungleichheit Europa destabilisiert. AFP

swissinfo.ch: Angesichts von Deflationsrisiken hat die EZB am 22. Januar entschieden, bis im September 2016 pro Monat staatliche und private Anleihen im Wert von bis zu 60 Milliarden Euro aufzukaufen. Was halten Sie davon?

B.S.: Wir sagen schon lange, dass die EZB ihre Rolle als Kreditgeber der letzten Instanz zu spielen hat. Das ist in einer Währungsunion unabdingbar. Wir heissen die angekündigten Massnahmen, die zur Ankurbelung der Wirtschaft und des Wachstums in Europa beitragen sollten, daher willkommen. Aber nur erhebliche Investitionen werden die Wirtschaft in Europa wirklich wieder in Gang bringen können.

swissinfo.ch: Kann man alles der Wirtschaftskrise anlasten? Wird der Prozess der Auslagerung gewisser Aktivitäten in Länder mit niedrigeren Produktionskosten nicht zwangsläufig weitergehen?

B.S.: Nein. Deutschland zum Beispiel konnte seine kleineren und mittleren Unternehmen (KMU) bewahren und seine Wirtschaft diversifizieren. In diesem Land gibt es nach wie vor eine starke Industrie, und mit dieser einen ganzen blühenden Dienstleistungssektor. Die Kollektivverträge und die Sozialpartnerschaft trugen auch dazu bei, die Auswirkungen der Krise abzudämpfen.

swissinfo.ch: Kann man Sie also als Anhängerin des deutschen Modells sehen?

B.S.: Das Modell hat positive Aspekte, die ich bereits erwähnt habe, aber auch andere, negativere. Ich denke vor allem an die Millionen von «Mini-Jobs», diese prekären Arbeitsstellen, die es Deutschland erlaubten, gegenüber Nachbarländern eine Lohnkonkurrenz nach unten auszuüben. Lohn- und Sozialdumping innerhalb der EU, das bedeutet so viel wie den sicheren Tod des europäischen Projekts.

61 Millionen Jobs verloren

Die Weltwirtschaft steckt in einer Periode, in der langsames Wachstum, wachsende Ungleichheit und soziale Unruhen zusammenkommen. Dies erklärte die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) am 19. Januar in ihrem Jahresbericht über die «Globalen Arbeitsmarkt-Perspektiven und Trends für 2015».

Die Zahl der Arbeitslosen wird gemäss der ILO global bis 2019 weiter ansteigen, von derzeit 201 Millionen Menschen auf 212 Millionen.

Seit der Finanzkrise von 2008 seien weltweit etwa 61 Millionen Jobs verloren gegangen, erklärte ILO-Generaldirektor Guy Ryder.

Gemäss dem ILO-Bericht haben viele Länder Schwierigkeiten, sich von der Krise zu erholen, vor allem wegen der zunehmenden Ungleichheit und den unsicheren Investitions-Perspektiven der Unternehmen.

Auch in Industriestaaten nähmen die Einkommensunterschiede, die man bisher vor allem in Schwellenländern beobachten konnte, immer mehr zu. Andererseits hätten gewisse Schwellenländer Fortschritte gemacht und ihre grossen Ungleichheiten verringern können, sagte Ryder.

swissinfo.ch: Ein anderes Land auf dem Kontinent, dem es gut geht, ist die Schweiz. Wie erklären Sie sich die unverschämte wirtschaftliche Gesundheit des Landes?

B.S.: In den vergangenen Jahrzehnten fusste ein guter Teil der Wirtschaft und des Wohlstandes auf der Anziehungskraft, die sie für nicht erklärtes Kapital und Unternehmen hatte, die sich den Steuern entziehen wollen. Es ist an der Zeit, solchen Praktiken einen Riegel zu schieben. Die Tatsache, dass sich Firmen den Steuern in den Ländern entziehen können, in denen sie ihre Profite machen, finde ich besonders unerträglich.

swissinfo.ch: Kann man die Schweiz wirklich nur auf ihren so genannten Status als Steuerparadies reduzieren, umso mehr, als sie grosse Anstrengungen unternimmt, nicht zuletzt durch die Aufhebung des besonderen Steuerstatus für multinationale Konzerne?

B.S.: Ich bin nicht sicher, ob die von der Schweiz eingeleiteten Massnahmen ausreichen werden. Aber es gibt natürlich auch positive Aspekte, die man von diesem Land übernehmen könnte, namentlich sein System der Sozialpartnerschaft oder sein sehr gut entwickeltes KMU-Netz.

swissinfo.ch: Gemäss dem ILO-Bericht nähert sich das Niveau der Ungleichheit in gewissen Industriestaaten jenen Niveaus an, die man aus Schwellenländern kennt. Welche Folgen hat das für Europa?

B.S.: Grössere Ungleichheit destabilisiert die europäischen Gesellschaften und sorgt für grosse Zweifel am Ideal, das zur Gründung der Europäischen Union geführt hatte. Leider werden diese Zweifel von Populisten aller Schattierungen ausgenutzt, die jedoch nur absurde Perspektiven wie die Rückkehr zu den nationalen Grenzen anbieten.

Auf dem Spiel stehen nicht nur Moral und sozialer Zusammenhang, sondern die Lebensfähigkeit der europäischen Volkswirtschaften. So haben zum Beispiel in Griechenland die Zunahme von Extremismus und die Konfliktsituationen in Folge der Sparprogramme vor allem zu einer Verarmung der Bevölkerung und zu einem Konsumrückgang geführt.

swissinfo.ch: Ist das WEF wirklich der richtige Ort, um über Ungleichheit zu sprechen?

B.S.: Ich hoffe es, denn die Unternehmensführer und Politiker, die in Davos anwesend sind, tragen einen grossen Teil der Verantwortung. Leider habe ich den Eindruck, dass den Worten kaum Taten folgen.

swissinfo.ch: Warum also nach Davos reisen?

B.S.: Vielleicht dient meine Anwesenheit hier dem Forum als Alibi, aber ich kann nicht ablehnen, meine Botschaft hierher zu bringen. Das WEF bietet daneben auch viele Möglichkeiten, sich zu informieren und Leute direkter und in einem informelleren Rahmen zu treffen. Und das macht diese Plattform interessant.

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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