Schweizer Sozialsystem steht vor massivem Ausbau
Die Schweizer Bevölkerung wird immer älter. Deshalb braucht es in den nächsten Jahrzehnten massiv mehr Angestellte im Sozialbereich. In Pflege, Betreuung und Verwaltung des Sozialstaats. Das besagt eine Studie des Bundesamts für Sozialversicherungen. Doch diese fehlenden Fachkräfte zu finden, ist alles andere als einfach.
Die Schweiz müsse ihren Sozialstaat in den nächsten Jahren «dramatisch» ausbauen, schreibt die jüngste «Sonntagszeitung» über eine Studie des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV). Die Studie «Beschäftigung und Produktivität im Sozialbereich»Externer Link, publiziert im Dezember 2016, rechnet bis 2030 mit einem Wachstum von bis zu 134’000 Vollzeitangestellten, wie Olivier Brunner-Patthey vom Bundesamt für Sozialversicherungen bestätigt. Er betont, es handle sich dabei allerdings nicht um offizielle Zahlen des Bundes, sondern sei das Ergebnis einer Forschungsstudie im Auftrag des Bundes.
«Es ist zu erwarten, dass der Bedarf an qualifiziertem Personal im Sozialbereich auch in Zukunft weiter steigen wird», heisst es in der BSV-Studie. «Die Studie bestätigt das stark überdurchschnittliche Beschäftigungswachstum im Sozialbereich in den vergangenen Jahren, wie dies auch im Ausland zu beobachten ist. Für die nächsten 15 Jahre ist weiterhin mit einem solchen Wachstum zu rechnen.»
Für Donat Knecht, Dozent für Sozialpolitik an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit und Mitautor der BSV-Studie, ist der demografische Wandel «sicher ein wichtiger Aspekt, aber auch der wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturwandel: Den erwerbstätigen Menschen stehen immer mehr Menschen im Rentenalter, Menschen mit Pflegebedarf usw. gegenüber. Das ist ein grosser Trend. Und der Strukturwandel in der Wirtschaft führt dazu, dass der Arbeitsmarkt immer exklusiver wird: Menschen, die früher noch eine Arbeit im regulären Arbeitsmarkt gefunden haben, finden diese heute nicht mehr», sagt er.
Auch mehr Kinderbetreuung
Aber nicht nur in Alters- und Pflegeheimen und der Verwaltung von Sozialleistungen gehen die Autoren von einem rasanten Wachstum aus. Laut der Studie soll sich etwa der Bedarf an Vollzeitstellen im Bereich «Tagesbetreuung von Kindern» sogar fast verdoppeln.
«Die Arbeitsintegration von Frauen ist heute eine Selbstverständlichkeit. Das ruft nach Betreuungsplätzen, und hier ist der Bedarf ja heute noch nicht gedeckt», erklärt Knecht. «Der Ausbau in diesem Bereich wird im Übrigen auch durch die Politik gefördert, gerade auch auf Grund des Fachkräftemangels. Denn ein Arbeitskräfte-Potenzial, das man in der Schweiz noch zu wenig ausschöpft, ist dasjenige der Frauen.»
Nun sei es an den zuständigen Akteuren – namentlich Kantone, Gemeinden, Ausbildungsinstitutionen, Berufs- und Branchenverbände sowie Arbeitgeber im Sozialbereich – das Thema weiterzuverfolgen und die notwendigen Massnahmen zu ergreifen, schliesst die Studie des BSV.
Für die Kantone in diesem Bereich ist die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) zuständig. «Wir sehen noch Potenzial bei der Weiterbildung (im Sinne von Nachholbildung) von erwachsenen Migranten und Migrantinnen oder Späteingereisten», sagt SODK-Generalsekretärin Gaby Szöllösy. «Sorgen macht uns zudem die hohe Berufsabwanderungsquote im Sozialbereich.»
Schwierige Suche nach Fachkräften
Doch wo diese fehlenden Fachkräfte finden, zumal das Schweizer Stimmvolk im Februar 2014 die Masseneinwanderungs-Initiative angenommen hat, die eine Kontingentierung von ausländischen Arbeitskräften verlangt, und die mit einem Vorrang für inländische Arbeitskräfte umgesetzt werden soll?
Die SODK sei gegenwärtig daran, auf Grund der von ihr mitfinanzierten Studie von «Savoirsocial» zur Fachkräftesituation im SozialbereichExterner Link zu prüfen, welche Massnahmen die Kantone ergreifen könnten, um den wachsenden Bedarf nach qualifizierten Fachkräften und Ausbildungsplätzen zu decken, schreibt das SODK-Generalsekretariat in einer schriftlichen Antwort.
Allerdings betont die SODK auch, die Studie habe gezeigt, «dass im Sozialbereich vergleichsweise wenig Ausländer und Ausländerinnen arbeiten (der Ausländeranteil im Sozialbereich beträgt 12%, im Schweizer Durchschnitt 25%). Dies bedeutet, dass die Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative für den Sozialbereich sicherlich weniger gravierende Folgen haben wird als z.B. für den Gesundheitsbereich». Trotzdem bleibe die Rekrutierung von genügend qualifiziertem Personal «eine Herausforderung, die wir angehen».
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