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Filmemacher in der Schweiz wirft Schlaglicht auf Not der Mädchen in Afghanistan

Darsteller:innen des Kurzfilms Tamanna und Tabassum
"Sie können Afghanistans Mädchen nicht stoppen, auch wenn sie Schulen schliessen", sagt der Filmemacher Ahura Ehsas. Ahura Ehsas

In Afghanistan ist es Mädchen verboten, die Schule länger als bis zur sechsten Klasse zu besuchen. Ein Filmstudent hat seine Kameralinse auf das Thema gerichtet, um auf diese Art für Mädchenrechte zu kämpfen – und vor einer Anerkennung der Taliban zu warnen.

Es brauchte nur zwei Jahre, bis Afghanistan als einziges Land der Welt Mädchen und Frauen die Sekundärstufe und höhere Bildung verboten hat. Das Ausradieren dieses – und der meisten anderen Grundrechte – für Frauen und Mädchen seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 hat international Wut ausgelöst.

Für Ahura Ehsas, ein afghanischer Student an der Ecole de Cinéma in Genf, hat das Gefühl der Verzweiflung für die Situation seiner Landsleute im September 2022 den Höhepunkt erreicht: Damals hat ein SelbstmordanschlagExterner Link an einem privaten College von Kabul Dutzende getötet und viele weitere verletzt, die meisten von ihnen Studentinnen.

«Das hat viel bei mir ausgelöst», erinnert er sich. «Danach hatte ich Alpträume.»

Als Dichter und Autor von Kurzgeschichten, schon bevor er das Filmstudium begann, entschied Ehsas, seine Gefühle zu Papier zu bringen und schrieb ein Drehbuch für einen Kurzfilm.

Es ist die Geschichte zweier Schwestern: Der Traum des Psychologiestudiums der einen endet, als sie in einem Talibanangriff getötet wird, und die andere nimmt es sich zur Mission, den Traum ihrer toten Schwester zu erfüllen.

Er gabt dem Drehbuch einen Titel – Tamanna und Tabassum, reale persische Namen, die «ein Wunsch und ein Lächeln» bedeuten  – und wollte damit zeigen, dass Mädchen einerseits der wahre Gegner der Taliban und andererseits die wahren Held:innen Afghanistans sind.

Der afghanische Filmstudent und Dichter Ahura Ehsas blickt in die Kamera.
Ehsas hat im Iran persische Literatur studiert und ist Dichter und Kurzgeschichtenautor, der gerade sein drittes und letztes Jahr des Filmstudiums an der Ecole de cinéma in Genf beginnt. Ahura Ehsas

«Die Taliban fürchten sich vor Mädchen, weil Frauen, die gebildet sind und ihre Rechte kennen, können die Legitimität ihres Regierens herausfordern», sagt Ehsas, der Afghanistan 1998 verlassen und im Iran persische Literatur studiert hat.

«Aber sie können Afghanistans Mädchen nicht stoppen, sogar, wenn sie Schulen schliessen. Die Mädchen werden immer andere Wege finden, um zu lernen und durchzuhalten.»

Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit unter den Taliban

In den 20 Jahren zwischen der ersten und der zweiten Machtergreifung der Taliban entwickelte sich Afghanistan von gar keinen Mädchen auf allen Schulstufen im Jahr 2001 zu einem Mädchenanteil von 39% der Primarschüler:innen und 30% der Schüler:innen auf der Sekundarstufe im Jahr 2018.

Es sind genau diese, die Zugang zu Ausbildung und Jobs in jener Phase erlangten, die seit der Rückkehr der Taliban am meisten verloren haben, sagt Erhard Bauer, Delegationsleiter der Schweizer NGO Terre des hommes. Durch die katastrophale humanitäre Lage wird deren Leiden noch verstärkt, ergänzt Bauer.

«Zusätzlich zur Geschlechterdiskriminierung haben Familien sehr reale existenzielle Probleme», sagt Bauer, der bereits 14 Jahre in Afghanistan gearbeitet hat. Eine Wirtschaftskrise plagt das Land, seit sich internationale Spender zurückgezogen haben. Frauen ist es verboten, im öffentlichen Sektor oder für internationale NGOs zu arbeiten. Für Männer wiederum gibt es auch nur wenige bezahlte Jobs.

Das Ergebnis, so Bauer, ist «Verzweiflung, Depression und weitverbreitete Hoffnungslosigkeit», wie es das Sanitätspersonal von Terre des hommes aus erster Hand erlebt.

Ehsas wollte in seinem Film die harte Realität zeigen. Aber um das zu tun, musste er unglaubliche Hürden überwinden. Normalerweise kostet ein studentischer Film 1000 bis 2000 Franken, und die Schauspieler:innen sind meist auch noch in Ausbildung.

Tamanna und Tabassum, das Ehsas als Teil seines Studiums präsentieren wird, kostete ihn fast 20’000 Franken, und zehn freiwillige Schauspieler:innen waren beteiligt. Nachdem er die Hälfte des Betrags durch ein CrowdfundingExterner Link aufgebracht hat, musste er seinen Lohn von einem Teilzeitjob in einem Hotel in Neuenburg anzapfen.

Der Kampf um finanzielle Mittel hat mehrere grosse Produktionsverzögerungen ausgelöst, besonders als einige Vereine, die Ehsas nicht namentlich nennen will, Geld versprachen für das Engagement für afghanische Mädchen, aber dieses Geld nie aufgetaucht ist.

Ahura Ehsas sitzt zusammen mit zwei Schauspielerinnen seines Films Tamanna und Tabassum
Ehsas am Set im Kanton Neuenburg mit den Schauspielerinnen Marziyeh Ghorbani (links), die Tamanna als junges Mädchen spielt, und Nafise Mohseni, die ihre Schwester Tabassum darstellt. Ahura Ehsas

Ein Zeichen des Widerstands

Ehsas bringen einige dieser Erinnerungen bis in die späten 1990er-Jahre zurück, als er Afghanistan verlassen hat. Nachdem er im Iran gelebt hatte, verbrachte er einige Zeit in Syrien, bevor er in die Türkei reiste und als Flüchtling vom UNHCR anerkannt worden ist. Vor sieben Jahren ist er in der Schweiz angekommen und hat Asyl beantragt.

Heute weiss Ehsas, dass er in einem sicheren Land ist, während die anderen Afghan:innen leiden. «Ich sage mir, dass ich ebenfalls in ihrer Situation sein könnte», sagt er.

Ihn beeindruckt speziell der Mut von Mädchen und Frauen. Kleine Gruppen von Frauen protestieren noch immer, inklusive Dutzenden, die auf die Strasse gingen nach dem Angriff auf die Schule im September 2022.

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Um die Schulverbote zu umgehen, kamen Untergrundklassen für Mädchen auf, in privaten Räumen. Aber es ist schwierig zu beurteilen, wie verbreitet solche sind.

«Wer auch immer dahintersteht, hält es geheim, weil es gefährlich ist, darüber zu sprechen», sagt Bauer. «Realistischerweise ist das Ausmass nicht so gross.» Und ein richtiges Bildungssystem könne es nicht ersetzen.

Online-Klassen sind auch aufgekommen, etwa die Herat Online SchoolExterner Link, gegründet von einem afghanischen Lehrer, der heute in Grossbritannien lebt. Aber, sagt Bauer, diese Anstrengungen erreichen, so mutig sie auch sind, nur einen kleinen Bruchteil der Kinder – diese brauchen ja erst Zugang zu Internet und Computer – in einem Land, wo 21 Millionen Menschen unter 18 sind.

«Es ist ein Zeichen des Widerstands, aber leider nicht mehr», sagt er, weil höhere Bildung oder Arbeitsmöglichkeiten fehlen. «Was passiert danach? Das ist die grosse Frage, vor der alle Frauen stehen, die ihre Bildung abgeschlossen haben.»

«Die eine Sache, die mir Angst macht»

Ehsas Film verweist auf die Gefahren, die eine offizielle Anerkennung der Taliban bedeutet, ein Schritt, vor dem afghanische Frauen wiederholt gewarnt hatten und den kein Staat der Welt bis jetzt gemacht hat.

«Es ist die eine Sache, die mir Angst macht», sagt Ehsas. «Die Anerkennung der Taliban würde die Zerstörung der Menschenrechte, der ganzen Menschlichkeit, bedeuten.»

Im April hat Rosa Otunbajewa, die UNO-Sondergesandte für Afghanistan, den Taliban mitgeteilt, dass Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft «fast unmöglich» sei, solange die Rechte von Frauen und Mädchen eingeschränkt bleiben.

Wie viele andere Staaten führt auch die Schweiz informelle Gespräche mit der islamistischen Gruppe, wie das Schweizer Aussenministerium SWI swissinfo.ch mitteilt. Die Rechte von Mädchen und Frauen, schreibt dieses weiter, sind immer ein wichtiges Thema in diesen Gesprächen.

«Es ist ein Horror, dieses Verbot der Ausbildung von Mädchen», sagt Ehsas, der momentan schlaflose Nächte damit verbringt, seinen Film zu beenden. «Meine Kamera ist meine Waffe, und ich werde für diese Frauen und Mädchen kämpfen – für mich sind sie wahre Heldinnen.»

Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels befand sich «Tamanna und Tabassum» in der Postproduktion. Nach der Fertigstellung plant Ahura Ehsas eine Vorführung für ein Publikum aus Crowdfunding-Spendenden, den Darsteller:innen und der Crew des Films, bevor er öffentliche Vorführungen in Genf und Neuenburg organisiert.

Editiert von Balz Rigendinger, Übertragung aus dem Englischen: Benjamin von Wyl

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