Covid-19 stellt politisches System der Schweiz auf Probe
In Krisenzeiten offenbaren sich Probleme im politischen System – das gilt auch für die Schweiz. Die zahlreichen Pressekonferenzen und Äusserungen von Politikern geben einen Einblick in das Innenleben des Schweizer Föderalismus. Was bedeutet das Kräftemessen zwischen den nationalen und kantonalen Behörden?
Das öffentliche Leben in der Schweiz steht weitgehend still, die Freiheiten jeder und jedes Einzelnen sind sukzessive eingeschränkt worden. Baustellen und Fabriken sind zu, ebenso Kinderkrippen, Restaurants und Skigebiete, öffentliche Grossveranstaltungen sind verboten und neue Regeln für die Arbeitslosenunterstützung umgesetzt worden.
Seit der Bundesrat (Landesregierung) Ende Februar damit begonnen hat, die Ausbreitung des Coronavirus mit weitreichenden, schweizweiten Massnahmen einzudämmen, fragen sich viele Beobachter: Was sollen die nationalen Behörden beschliessen? Und was ist Sache der Kantone und Gemeinden?
Es kam immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Bundesrat und den Regierungen der Kantone. Für viele wirkte die Lage chaotisch. Und so wurden auch Rufe nach stärkeren Befugnissen des Bundesrats laut.
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Ein globales Virus erfordert eine globale Antwort
«Nein, wir befinden uns nicht in einer Sackgasse», sagte Innenminister Alain Berset während einer Pressekonferenz. Er wies den Vorwurf zurück, der Bundesrat und die Behörden im Tessin könnten ihre Differenzen über die Anwendung nationaler Vorschriften auf lokaler Ebene nicht lösen.
Berset verbrachte viel Zeit damit, Journalisten zu erklären, welche politischen Grundsätze der Bundesrat anwendet und befolgt: «In schwierigen Zeiten wie jetzt müssen wir geeint sein. Meinungsverschiedenheiten müssen am Tisch von allen Beteiligten ausdiskutiert werden», sagte er. «Was wir brauchen, ist viel Wohlwollen und Pragmatismus, um eine gute Lösung zu finden.»
Langsam, aber sicher
Während einige Experten Besorgnis über die offensichtlichen Spannungen zwischen den verschiedenen Regierungsebenen äusserten, monierten andere, dass das föderalistische System und die Suche nach einem Konsens umständlich und langsam seien.
Die Soziologin Katja Rust möchte die Verfahren beschleunigen, indem sie die Phase der Konsultationen überspringt, welche meistens langwierige Diskussionen beinhaltet. «Diese Strategie funktioniert nicht in Krisenzeiten», sagte sie in einem Interview mit Zeitungen des Tamedia-Verlags.
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Was ist Föderalismus?
Für viele ist klar, dass die kantonale Autonomie einen verlangsamenden Faktor darstellt. Doch die Frage ist, ob diese Verlangsamung der Prozesse zwangsläufig zu schlechteren Ergebnissen führt als ein zentralistisches Top-Down-System.
Sowohl Andreas LadnerExterner Link, Politikwissenschaftler an der Universität Lausanne, als auch der Politikexperte Claude LongchampExterner Link, Gründer, Verwaltungsrat und langjähriger Leiter des Forschungsinstituts GfS Bern, weisen darauf hin, dass Zentralregierungen, besonders in Frankreich und Grossbritannien, Krisen nicht effizienter bewältigen könnten als die Schweiz.
Flexibel und innovativ
«Der Föderalismus bringt sicherlich langfristig passende Lösungen hervor», sagt Longchamp. «Er ist flexibler und innovativer.»
Ladner fügt hinzu, dass es entscheidend sei, wie die Akteure am föderalistischen System festhielten und wie die Kantone untereinander und mit dem Bund zusammenarbeiteten.
Der Föderalismus habe sicherlich seine Schattenseiten, sagt Longchamp. Er erschwere strategisches Denken, was sich beispielsweise in den Bemühungen der Schweiz um eine kohärente Politik in Bezug auf die Beziehungen zur Europäischen Union zeige.
Ladner seinerseits weist darauf hin, dass Spannungen zwischen der nationalen und der kantonalen Autonomie ein wesentlicher Bestandteil der Schweizer Politik darstellten. Momentan seien diese Spannungen halt sehr sichtbar geworden.
Umweltgesetze etwa oder Änderungen in der Drogenpolitik wurden durch Versuche auf lokaler Ebene als Teil einer nationalen Lösung eingeführt, welche die kantonale Autonomie ausser Kraft setzte.
Auswirkungen der Covid-19-Krise
Trotz einiger Probleme hat sich der Föderalismus, der die regionale Vielfalt und den Einbezug von Minderheiten garantiert, während der aktuellen Covid-19-Krise bewährt. Die beiden Experten sind sich einig: Das System müsse nicht geändert werden.
Laut Longchamp bedeutet die aktuelle Krise keineswegs das Ende der kantonalen Autonomie. Sie könnte aber zu einem wachsenden Bewusstsein für nationale Verantwortlichkeiten führen.
«Der Föderalismus wird sich durchsetzen, weil er in der DNA der Schweiz steckt», sagt er. Die Wurzeln des Föderalismus reichten bis ins Mittelalter zurück. Das Prinzip wurde ein Grundsatz des 1848 gegründeten politischen Systems des modernen Schweizer Staats.
Einige Experten argumentieren sogar, dass dieses Merkmal der Schweiz ebenso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger sei als das Prinzip der direkten Demokratie, also der Möglichkeit für die Bürgerinnen und Bürger, sich an politischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen.
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Krisenmanager der Nation stärkt Bundesrat den Rücken
Pragmatisch
Es gibt genügend Beispiele, die zeigen, dass das föderalistische Kräfteverhältnis durch vorübergehende Einschränkungen der Kantone und des Parlaments nicht zerstört wird.
So ist eine während des Ersten Weltkriegs eingeführte Bundessteuer ein Überbleibsel einer Bundesregierung, die ihre Souveränität geltend machte. Und das so genannte Vollmachtenregime, das dem Bundesrat während des Zweiten Weltkriegs weitreichende Befugnisse erteilte, hielt bis weit nach 1945. Erst 1949 erzwang das Stimmvolk mit einer Volksinitiative die «Rückkehr zur direkten Demokratie» und damit auch die Rückkehr der verfassungsmässigen Rechte des Parlaments.
Der Pragmatismus, so scheint es, setzt sich in der Schweizer Politik meistens durch. Es wäre daher keine wirkliche Überraschung, wenn die gegenwärtigen Spannungen zwischen Bund und Kantonen anhalten würden.
Bisher konnten alle Streitigkeiten über die uneinheitliche Umsetzung oder Verletzung der nationalen Covid-19-Beschlüsse durch kantonale oder lokale Behörden beigelegt werden. Das heisst aber nicht, dass es zu keinen Differenzen mehr kommen wird.
Dieses Seilziehen gehört zur Schweiz, ebenso der Kompromiss und Konsens. Es gilt für alle Seiten stets, eine akzeptable Lösung zu finden, bei der jede ihr Gesicht bewahren kann. Und so war das Plädoyer für Wohlwollen, Pragmatismus und Einheit von Innenminister Berset kaum ein Zufall.
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Coronavirus: Die Situation in der Schweiz
(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)
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