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Friedensprozess ernsthaft gefährdet

Wäre gemäss den Palästina-Papieren offiziell ein Teil Israels geworden: Haupteinkaufsstrasse in Ostjerusalem. Sheikh Jarrah

Die von Al-Jazeera publizierten geheimen Dokumente der israelisch-palästinensischen Friedensverhandlungen haben in der arabischen Welt einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Der ehemalige Leiter der Schweizer Vertretung in Ramallah befürchtet irreparable Schäden.

Am 23. Januar publizierte der in Katar ansässige Fernsehsender Al-Jazeera 1600 geheime Dokumente von Verhandlungen zwischen der Palästinensischen Autonomiebehörde und Israel.

Diese Papiere belegen, dass die palästinensische Regierung gegenüber Israel zu weitaus grösseren Zugeständnissen betreffend den Status Jerusalems und der Flüchtlingsfrage bereit wäre, als bisher angenommen wurde.

Der Inhalt der Dokumente hat in Palästina und den umliegenden arabischen Ländern einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Seit Sonntagabend berichtet Al-Jazeera in Sondersendungen über das selbst entfachte Feuer.

Obwohl in den veröffentlichten Umfragen auch besonnene Stimmen zu vernehmen sind, scheint die Mehrheit der Leute überzeugt zu sein, dass die Palästinensische Autonomiebehörde das palästinensische Volk an den Feind verkaufen will.

Schwache Regierung

«Die Publikation dieser Dokumente ist verheerend für die Autonomiebehörde», sagt Jean-Jacques Joris, ehemaliger Leiter der Schweizer Vertretung in Ramallah, gegenüber swissinfo.ch. «Die Dokumente beweisen, wie schwach die Palästinensische Regierung ist, dass sie weder von den USA noch von der EU gestützt wird, ja sie entlarvt die angebliche Unterstützung des Westens als reines Lippenbekenntnis.»

Noch weiter geht Nasser Al-Laham, Chefredaktor von Ma’an, der populärsten Nachrichtenagentur Palästinas, der am Montag sagte, dass der Sender Al-Jazeera mit der Publikation der geheimen Dokumente den Regierungen in Washington und Tel Aviv in die Hände spielt. «Unter dem Vorwand von Transparenz wird den Zuschauern in der arabischen Welt vermittelt, die Palästinenser seien die Sklaven Israels.»

Tatsächlich geht aus den Dokumenten hervor, dass die Palästinenser den Israeli 2008 das Angebot gemacht haben, einen Teil des als Hauptstadt Palästinas vorgesehenen Osten Jerusalems an Israel abzutreten. Dies würde unter anderem das Quartier Sheikh Jarrah betreffen, das kommerzielle Zentrum des Ostens, wo sich auch die für Palästina zuständigen Generalkonsulate Schwedens, Belgiens, Italiens, Grossbritanniens und der Türkei befinden.

Zusätzlich wären die Unterhändler bereit, einen Teil der Jerusalemer Altstadt abzugeben und den Tempelberg unter internationale Verwaltung zu stellen. Der Tempelberg mit der Al-Aqsa Moschee und dem Felsendom mit der berühmten goldenen Kuppel gilt als drittwichtigstes Heiligtum der Muslime.

Flüchtlingsfrage offen diskutiert

Ein weiterer heikler Punkt betrifft die sogenannte Flüchtlingsfrage. Die bei der Gründung des Staates Israel 1948 aus ihren Häusern, Dörfern und Städten vertriebenen Palästinenser verfügen seit über 60 Jahren über ein sogenanntes Rückkehrrecht. Das heisst: Sie haben theoretisch das Recht, sich in jenem Gebiet niederzulassen, aus dem sie einst flüchteten.

Da dieses Recht aber nicht nur für die einstmals Vertriebenen, sondern auch für ihre Nachkommen gilt – also für insgesamt fast fünf Millionen Menschen – ist vielen schon lange klar, dass die Umsetzung dieser UNO-Resolution sehr unrealistisch ist.

Offiziell wird so etwas natürlich nicht eingestanden; hinter geschlossenen Türen jedoch wird offen gesprochen. So ist den Unterlagen zu entnehmen, dass Mahmoud Abbas, der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, sagte: «Es wäre unangemessen, von Israel zu verlangen, es müsse eine Million Flüchtlinge aufnehmen. Das wäre das Ende des jüdischen Staates.»

Unterschiedliche Reaktionen

In der arabischen Welt gelten solche Aussagen als Tabubruch. Die im Gazastreifen regierende Hamas hat denn am Dienstagabend auch verlauten lassen, Mahmoud Abbas sei nicht weiter befugt, für die Palästinenser zu verhandeln.

Im Westen hingegen könnte das Ansehen Palästinas auf Kosten Israels steigen, mutmasst die linksliberale israelische Tageszeitung Ha’aretz: «Wenn Israel gedenkt, seinen Status als jüdischen und demokratischen Staat dadurch zu untermauern, in dem es seine illegalen Siedlungen weiter ausbaut, dann verliert es auch noch den letzten palästinensischen Verhandlungspartner, der verhindern könnte, dass Israel international zunehmend als Apartheidstaat wahrgenommen wird.»

Das Problem sei nur, meint Ex-Botschafter Jean-Jacques Joris, dass diese Ansicht weder von Israels Regierung geteilt noch von westlichen Staaten lautstark geäussert werde: «Die Bereitschaft der Palästinenser, Israel entgegenzukommen, ist dem Westen seit Jahren bekannt. Doch die traurige Wahrheit ist, dass weder Europa noch die USA bereit sind, Israel für seine Taten zur Verantwortung zu ziehen. Hillary Clintons Bemerkung, die Palästinenser würden sich andauernd in einer griechischen Tragödie befinden, ist ein geflügeltes Wort unter Diplomaten in Washington, Brüssel oder in Bern.»

Warum Al-Jazeera die Dokumente ausgerechnet zu einem Zeitpunkt veröffentlichte, in dem gleich zwei Staaten der Region – Libanon und Tunesien – vor einer ungewissen Zukunft stehen, darüber kann nur spekuliert werden. Der palästinensische Chefunterhändler Saeb Erekat beschuldigte Al-Jazeera am Dienstag, der Sender wolle in Palästina eine Revolution anzetteln.

Joris glaubt nicht an Verschwörungstheorien, die würden meist zu kurz greifen: «Wahrscheinlich hatte Al-Jazeera einfach Angst, ein Konkurrent könnte ebenfalls in den Besitz der Dokumente gelangen und hat sie deshalb so schnell wie möglich publiziert.»

Am Sonntag, 23.1.2011 begann der arabische TV-Sender Al-Jazeera damit, brisante Details aus den Nahost-Verhandlungen zu enthüllen.

Die rund 1600 Dokumente stammen laut Al-Jazeera aus verschiedenen Quellen.

Sie sollen in der nächsten Zeit nach Themen veröffentlicht werden: Die Sendung vom Sonntag beschäftigte sich mit Jerusalem.

Laut den Dokumenten waren die Palästinenser 2008 beispielsweise bereit, Israel praktisch alle jüdischen Viertel im arabischen Osten von Jerusalem abzutreten.

Die palästinensische Regierung behauptete, es handle sich bei den Dokumenten um Fälschungen, während die den Gazastreifen kontrollierende islamistische Hamas der Autonomieregierung massive Vorwürfe machte.

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