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Gesamtarbeitsverträge – Bilanz nach 100 Jahren

Gesamtarbeitsverträge (GAV) und Arbeitsfrieden: Eine Bilanz nach einem Jahrhundert Bestehen. RDB

Seit 100 Jahren im Obligationenrecht verankert, scheint es, dass sie die Arbeitsverträge generell regeln: Die Gesamtarbeitsverträge. Laut Professor Daniel Oesch jedoch ist das Gegenteil der Fall.

Am 24. November haben Arbeitgeber und Gewerkschaften einen Studientag organisiert, zum Thema «100 Jahre Gesamtarbeitsverträge». Mit der Revision des Obligationenrechts (OR) im Jahre 1911 sind die Gesamtarbeitsverträge (GAV) rechtlich verbindlich geworden. Eine Pionierstat in einer Zeit, in der die Schweiz in Sachen Arbeitsrecht zur Avantgarde gehörte.

Damals befanden sich die GAV noch in ihrer frühen Phase: Es handelte sich in erster Linie um Arbeitsverträge, die auf lokaler oder regionaler Ebene zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern abgeschlossen wurden. Der Anteil der Arbeitnehmer mit GAV-Verträgen belief sich damals auf nicht einmal 5%.

Im Laufe der Zeit kam es auch in der Schweiz zu tiefgehenden Änderungen in der Reglementierung der Arbeitsverhältnisse. Um die gegenwärtige Situation zu beschreiben, hat sich swissinfo.ch mit Professor Daniel Oesch unterhalten, der sich am Lausanner Institut für Sozialwissenschaften mit dem Arbeitsmarkt beschäftigt.

swissinfo.ch: Welches sind die Eigenheiten der Schweizer Arbeitsverträge im Vergleich mit den Nachbarländern ?

Daniel Oesch: Viele glauben, die Schweiz sei ein Land mit einer hochentwickelten Sozialpartnerschaft. Also in der Art eines flexiblen und liberalen Arbeitsrechts, das wenig reglementiert und die spezifischen Regelungen den GAV überlässt.

Doch es ist so, dass in der Schweiz nur jeder zweite Arbeitnehmer einem GAV untersteht. Im Vergleich: In Deutschland sind es zwei von drei, in Italien vier von fünf, und in Österreich sind es fast alle.  

Mit anderen Worten, in der Schweiz hängt jeder zweite Arbeitnehmer arbeitsvertragsmässig ausschliesslich vom OR ab, das aber weniger weit reguliert als in anderen europäischen Ländern.  

 swissinfo.ch: Was sind die Konsequenzen?

 

D.O.: Die Schweizer Gesetzgebung sieht kein Minimumsalär vor. Solche minimale Löhne werden jedoch von den meisten GAV festgelegt. Somit haben mit wenigen Ausnahmen nur diejenigen, die einem GAV unterstehen, einen garantierten unteren Einkommenssockel. Das dürften etwa 40% der Arbeitnehmer sein, eine Minderheit also. Für 60% gibt es also keine garantierte untere Einkommensbasis.

swissinfo.ch: GAV und Sozialpartnerschaft werden in der Schweiz mit dem so genannten Arbeitsfrieden in Bezug gebracht. Dieser geht auf die 1937 geschlossenen Abkommen in der Uhren- und Maschinenindustrie zurück. Aber Streiks gab es seither nur wenige…

D.O.: Der Arbeitsfrieden in der Schweiz entspricht eher etwas einer Legende, die 1937 ihren Anfang genommen haben soll.

Der primäre Zweck eines GAV für die Arbeitnehmenden besteht im Schutz (Löhne, Arbeitsbedingungen). Für die Arbeitgebenden ist damit eine Stabilität in der Produktion verbunden – und ein Ausschliessen von Streiks. 

Dieser Tausch von Schutz und Stabilität kam im Lauf der Zeit zusammen, parallel zum Wachstum des GAV-Bereichs. Besonders in der Zeit nach dem 1. Weltkrieg, während der Dreissiger Jahre und in den entscheidenden Jahren zwischen 1945 und 1949, als GAV wirklich aufkamen.

Ab den 50er-Jahren gab es weniger Arbeitskonflikte, das Niveau der Zusammenarbeit Arbeitgeber-Arbeitnehmer wuchs.  

swissinfo.ch: Seit den frühen 90er-Jahren hat sich das Klima abgekühlt, gewisse GAV sind aufgekündigt worden. Kürzlich kam es rund um die Verhandlungen für einen nationalen Mantelvertrag im Bauwesen zu Streikandrohungen. Ist der Konsens am Ende?

D.O.: Im Grossen und Ganzen bleibt der Konsens in den Branchen und den GAV bestehen. Das heisst aber nicht, dass es keine Konflikte gäbe. Auch in einem relativ kooperativen System hat es immer Divergenzen gegeben und auch Streiks wird es wohl ebenfalls immer geben.

Es gibt Hunderte von GAV in der Schweiz, deren Neuauflagen immer wieder neu verhandelt werden müssen. Deshalb überrascht es kaum, dass dann und wann eine Neuauflage schief geht. Der nächste Schritt jeweils besteht in einem Streik, um die Verhandlungen zu beeinflussen.    

Das Klima ist schwieriger geworden, was aber nicht heisst, dass die Arbeitsverhandlungen in der Schweiz konfliktträchtiger geworden sind. Im internationalen Vergleich herrscht hier immer noch viel Konsens.  

swissinfo.ch: Wo liegen die Grenzen eines GAV, im Vergleich zu einer gesetzlichen Regelung der Arbeitsverhältnisse?

D.O.: Die Schwäche eines GAV ist sein korporativer, fast zünftlerischer Aspekt. Sind die Arbeitnehmer gut organisiert, funktioniert die Gewerkschaft. Somit verbessern sich die Arbeitsbedingungen. Wo jedoch die Arbeitnehmerschaft gespalten ist, wo sich die Arbeitsbedingungen stark unterscheiden, fehlen oft Regeln. Das Gesetz schreibt ja nur ein Minimum vor.

Es besteht demnach bei den GAV die Gefahr einer Zweiteilung: Einerseits die kollektiv gut durchorganisierten Branchen, andererseits die fragmentierten Branchen mit schwierigen Bedingungen. Ein System auf zwei Schienen also.  

swissinfo.ch: Haben die GAV eine Zukunft, angesichts der zunehmenden Tendenz zu Wettbewerb und Individualisierung?

D.O.: Vor zwanzig Jahren erachtete man die GAV als Dinosaurier der vergangenen Industrieepoche. Sie erschienen einigen bereits als historisches Auslaufmodell. Heute jedoch sind GAV verbreiteter als früher, auch in den Dienstleistungs-Sektoren. Sie haben also bewiesen, dass sie sich den neuen Begebenheiten gut anzupassen wussten.  

Ich bin ziemlich zuversichtlich, was das künftige Gewicht der GAV betrifft, besonders in einem derart offenen Arbeitsmarkt wie jenem in der Schweiz, mit seiner hohen Einwanderung.  

Die GAV werden innerhalb der Reglementierung des Schweizer Arbeitsmarktes noch lange eine wichtige Rolle spielen, obschon sie verbessert werden müssen.

Der Gesamtarbeitsvertrag (GAV) ist ein Vertrag zwischen Arbeitgebern oder Arbeitgeberverbänden und Arbeitnehmerverbänden zur Regelung der Arbeitsbedingungen und des Verhältnisses zwischen den GAV-Parteien.

Er ist in den Artikeln 356 bis 358 des Obligationenrechtes geregelt.

Der klassische Inhalt eines GAV beinhaltet Bestimmungen über den Abschluss, Inhalt und Beendigung des Einzelarbeitsvertrages (normative Bestimmungen), Bestimmungen über die Rechte und Pflichten der Vertragsparteien unter sich (schuldrechtliche Bestimmungen) und Bestimmungen über Kontrolle und Durchsetzung des GAV.

Ein GAV wird meistens mit einer bestimmten Laufzeit vereinbart. Während der Laufzeit besteht beidseitig Friedenspflicht.

(Quelle: Staatssekretariat für Wirtschaft, SECO)

An einer Jubiläumstagung in Bern hat Bundesrat Johann Schneider-Ammann die seit 100 Jahren bestehenden GAV gewürdigt.

Zusamment mit dem liberalen Arbeitsmarkt seien die GAV dafür besorgt, dass es in der Schweiz nur wenig Arbeitslose gebe.

Sie fördern den sozialen Frieden, «was ein wichtiger Vorteil für den Wirtschaftsstandort Schweiz ist», so Schneider-Ammann.

Laut dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund SGB unterstehen heute mehr als die Hälfte aller Arbeitnehmenden einem GAV – insgesamt etwa 1,7 Mio. Menschen.

(Übertragung aus dem Italienischen: Alexander Künzle)

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