Gesucht: Auswege aus der Mental-Health-Krise
Der "Zukunftsrat U24" präsentierte Ende November seine Vorschläge. SWI swissinfo.ch hat ihn an seinem ersten Treffen im September besucht. Die Teilnehmer:innen wurden durch das Los bestimmt – und hoffen auf Einfluss auf die offizielle Politik der Schweiz.
Hätte es in seiner Jugend einen Zukunftsrat gegeben, hätte sich dieser nie mit dem Thema psychische Gesundheit befasst. Davon ist der Experte mit graumelierten Haaren überzeugt, dem junge Menschen im Alter von 16 bis 24 Jahren Fragen stellen.
Ende November 2023 hat der Zukunftsrat seine Vorschläge der Öffentlichkeit präsentiert. An erster Stelle steht die Forderung nach mehr Prävention im Mental-Health-Bereich. Darüber hinaus will er ein nationales Gesetz zur Regulierung von Social-Media-Plattformen. Teil davon müssten jugendfreundliche Versionen aller Plattformen sein, eine griffige Kontrolle von Alters-Limiten. Der Zukunftsrat fordert auch, dass die Plattformen mehr Verantwortung für die dortigen Inhalte übernehmen müssen.
Weiter will das Gremium der Jungen Erwachsenen ein neues Schulfach namens «Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung». In der Arbeitswelt möchte er einen stärkeren Diskriminierungsschutz für psychisch Kranke, sowie klare Regeln, wann man zum Beispiel ausserhalb der Arbeitszeit Mails beantworten muss.
Der intensiv diskutierte Vorschlag einer generellen Vier-Tage-Arbeitswoche fand im Zukunftsrat nicht die nötige Mehrheit.
Als Teil des «Zukunftsrat U24» kommen diese im Herbst je ein Wochenende in Zürich, Lausanne und Locarno zusammen. Sie informieren sich, diskutieren und übergeben am Ende der Politik ihre Vorschläge, wie die Schweiz dem Thema «psychische Gesundheit» besser begegnen kann. Den Teilnehmer:innen ist die Verantwortung, die damit einhergeht, ins Gesicht geschrieben.
Der Zukunftsrat ist ein Bürger:innenrat oder -panel. Diese sind weder in der Schweiz noch weltweit ein neues Phänomen. In den letzten Jahren entwickelten sie sich zu einer Art Trend in der Weiterentwicklung der Demokratie.
Trend zu Klimaräten und Bürgerpanels
Angefangen hat dieser Trend in Europa mit dem irischen Bürger:innenrat «We The Citizens». Die per Los ausgewählten Ir:innen sollten in einem Debattenprozess, in der sogenannten Deliberation, Positionen zu lange polarisierenden Fragen finden. Für viele überraschend formulierte dieses irische Panel unter anderem Empfehlungen für ein liberales Abtreibungsgesetz – und 2018 stimmten im sehr katholischen Irland dann auch fast zwei Drittel dafür. Zuvor gab es beim Thema Abtreibung in Irland lange weder vor noch zurück.
Nachdem also der irische Bürger:innenrat das Land aus einer politischen Sackgasse geführt hat, gründeten sich viele per Los zusammengesetzte Räte, darunter nationale Klimaräte in Frankreich, Deutschland, und Grossbritannien.
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«Öko-Totalitarismus ist eine Gefahr in Bezug auf den Klimawandel»
Mit Massnahmen zur Bewältigung des Klimawandels befassen sich Bürger:innenräte besonders oft. NGOs und Aktivist:innengruppen wie Extinction Rebellion fordern überall Bürger:innenräte zur Entscheidungsfindung in der Klimapolitik. Auch die drei letzten Bürger:innenräte in der Schweiz – in den Gemeinden Winterthur, Uster und Thalwil – befassten sich mit Nachhaltigkeit und Klimapolitik.
Nun nimmt sich ausgerechnet der Zukunftsrat, dessen Mitglieder der Generation von Greta Thunberg entstammen, einer Thematik an, die bisher kein politisches Topthema war: psychische Gesundheit.
Entschieden hat dies eine repräsentative Umfrage unter 20’000 jungen Erwachsenen in der Schweiz. Über 40% stimmten für psychische Gesundheit, auf dem zweiten Platz landete mit knapp 20% die Nachhaltigkeit.
20’000 der 800’000 Menschen in der Schweiz zwischen 16 und 24 haben eine Einladung bekommen. Auf diese hin meldeten 1200 ihr Interesse am Zukunftsrat an. Die Zukunftsrät:innen wurden dann aus diesem Pool von Anmeldungen gelost, repräsentativ zur Bevölkerung: Frauen, Männer, aus der Westschweiz, dem Tessin und der Deutschschweiz, mit Schweizer Pass oder ohne. Damit das Geld keine Hürde für die Teilnahme ist, erhalten die Zukunftsrät:innen pro Tag eine Entschädigungen nach den Ansätzen vom Schweizer Militär- und Zivildienst, also mindestens 69 Franken pro Tag.
Projektträger des «Zukunftsrat U24» sind die Schweizerische UNESCO-Kommission und die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft SGG, die unter anderem das «Rütli» verwaltet, die mythische Gründungswiese der Schweiz. Das Projekt ist breit abgestützt, von der Bundesverwaltung bis zur SRG SSR (zu der auch SWI swissinfo.ch gehört).
In der Aufsichtskommission des «Zukunftsrat U24» sitzen Vertreter:innen fast aller Parteien: Einzig der Sitz der rechtsbürgerlichen SVP ist noch vakant. Darauf angesprochen zeigt sich Co-Projektleiter Che Wagner optimistisch und versichert, dass man im Austausch mit möglicherweise interessierten SVP-Vertreter:innen sei.
Auch Annabel Lewis aus Genf hat für dieses Thema abgestimmt. Die 17-jährige Zukunftsrätin sieht sich «nicht wirklich» als politische Person und hat die Einladung in den Zukunftsrat als Chance gesehen, sich tiefer in die Schweizer Politik zu knien. «Ich wusste bereits, dass psychische Krankheiten gerade junge Menschen betreffen – aber die Zahlen, die wir hier erfahren, sind doch eindrücklich.» Eine von fünf Personen ist von psychischen Krankheiten betroffen. Nach dieser Rechnung sind also sehr viele Menschen betroffen, die man kennt.
Lewis hat noch keine abschliessende Meinung und ist offen dafür, Vorschläge zu erarbeiten. Aber sie hat das Gefühl, die Thematik sollte in der Schule mehr Raum einnehmen.
«In der Schule ist psychische Gesundheit bisher kaum Thema, weshalb viele Menschen aller Generationen ein Problem haben, darüber zu sprechen. Aber psychische Gesundheit sollte kein Tabu sein und ich bin dafür, dass man in der Schule ansetzt», führt Lewis aus. Dadurch würden Betroffene entstigmatisiert und schneller Kontakt mit Therapeut:innen aufnehmen.
Weiter ist Lewis überzeugt, dass die Schweiz auch finanziell mehr investieren sollte – in ausreichend Therapieplätze und ein gestärktes Bewusstsein für die Thematik.
Lewis ist Schweizerin und auch britische Bürgerin. Ihr Genfer Umfeld sei sehr international – am Zukunftsrat trifft sie auch auf ganz andere Lebensrealitäten. Denn dieser bildet im Hinblick auf Ausbildung und Lebensraum die Schweizer Gesellschaft ab.
So gehört zum Beispiel auch ein Zimmermann aus dem Emmental dem Zukunftsrat an. «Mit ihm wäre ich sonst nie in Kontakt gekommen», sagt der 18-jährige Wesley Meldau aus Zürich.
Auch Meldau vertritt keine fixen Positionen, sondern sieht seine Tätigkeit im Zukunftsrat als Aufgabe, Wissen zu erlangen, Meinungen zu hören – und daraus Vorschläge zu erarbeiten. «Ich erhoffe mir, dass wir der Politik konkrete Lösungsansätze übergeben können und die Politik uns wahrnimmt.»
«Ich glaube und hoffe, dass das neue Parlament die Arbeit des Zukunftsrats ernst nimmt», sagt Co-Projektleiter Che Wagner. «Ich bin froh, haben die Jugendlichen für psychische Gesundheit gestimmt, weil die Thematik noch nicht so stark links rechts verortet und die Meinungen noch nicht gemacht sind.»
Junge Menschen: In der Schweizer Politik wenig eingebunden
Es gibt bereits eine Vielzahl von Jugendparlamenten und jedes Jahr im November die eidgenössische Jugendsession, an der junge Menschen vier Tage lang im Bundeshaus Positionen der Jugend zu politischen Themen entwickeln.
Braucht es also überhaupt noch ein Projekt wie den Zukunftsrat? «Wir erreichen mit dem Zukunftsrat junge Personen, die sonst nicht politisch aktiv sind», betont Co-Projektleiterin Lara Oliveira König. «Den Unterschied macht das Losverfahren, mit dem wir junge Menschen erreicht haben, die sich nicht von Jugendparlamenten oder -sessionen angesprochen fühlen.»
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Wird die Schweizer Demokratie besser, wenn der Zufall mitredet?
Beide Co-Projektleiter:innen betonen, dass die jüngere Generation in der Schweiz politisch wenig eingebunden ist: Nur 23% der 800’000 16- bis 24-Jährigen und 37% der erwachsenen Schweizer Staatsbürger:innen unter 24 partizipieren bisher an der Schweizer Demokratie.
Das Projekt «Zukunftsrat U24» ist in der Politik und der Verwaltung breit abgestützt. Doch manche – so zeigte sich in den Grussworten am Eröffnungstag – verstehen ihn eher als Instrument zur politischen Bildung und Partizipation, denn als Demokratie-Innovation.
Doch die Teilnehmer:innen wollen, dass ihre Ideen gehört werden. Die entscheidene Frage wird darum – wie bei allen Bürger:innenräten – sein, was mit den Vorschlägen des Zukunftsrats passiert.
Ein Negativbeispiel ist der nationale Klimarat in Frankreich: Anfangs versprach Präsident Emanuel Macron alle vom Klimarat verabschiedeten Vorschläge «ohne Filter» in eine Abstimmung im Parlament oder vor das Volk zu bringen. Einige unliebsame Ideen hat er aber dann persönlich getilgt. Am Ende beschloss das Parlament ein Klimagesetz, das Frankreichs Klimarat scharf kritisierte. Dieser Bürger:innenrat fühlte sich letztlich nicht ernst genommen.
Editiert von Mark Livingston.
Dieser Artikel vom 14. September 2023 wurde am 23. November 2023 um die Lösungsvorschläge des Gremiums ergänzt.
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