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Gewerkschaften bringen 24-Stunden-Shops an die Urne

In der Schweiz gibt es über 1300 Tankstellen mit angeschlossenem Café oder Shop. Gonzalo Garcia/EQ Images

Die Schweiz gehört zu den konsumentenfeindlichsten Ländern Europas, was die Ladenöffnungszeiten betrifft. Das Stimmvolk kann sich im September zu einem kleinen Schritt in Richtung Liberalisierung äussern – es geht um die Frage, ob Tankstellenshops rund um die Uhr Waren verkaufen dürfen.

Gemäss geltendem Gesetz können Läden in der Schweiz ihre Türen an Wochentagen von 6 Uhr morgens bis 11 Uhr nachts geöffnet haben, mit zahlreichen lokalen Ausnahmen.

Zu diesen gehören Tankstellen, die 24 Stunden geöffnet haben und über ein Café sowie einen Shop verfügen. Bei diesen können Kunden sieben Tage in der Woche von 5 Uhr morgens bis 1 Uhr nachts einkaufen.

Es gibt über 1330 solche Tankstellen in der ganzen Schweiz, doch nur 24 davon, die meisten an Autobahnen oder vielbefahrenen Hauptstrassen, nutzen diese Öffnungszeiten. Gewisse Waren dürfen sie zwischen ein Uhr und fünf Uhr morgens allerdings nicht verkaufen und müssen in diesen Stunden einen Teil ihrer Gestelle und Gefrierregale abdecken.

Die meisten politischen Parteien, die Regierung und ein Teil der Wirtschaft halten diese Praxis für unverständlich und veraltet. «Das ist eine absurde Sortimentsbeschränkung» sagt Martin Bäumle, Präsident der Grünliberalen Partei (GLP). «Es führt dazu, dass der Verkauf gewisser Produkte erlaubt ist, von anderen aber nicht.»

Andere Befürworter der Reform sind der Meinung, der Detailhandel leide unter zu vielen bürokratischen Hürden. Christian Lüscher, Nationalrat der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP.Die Liberalen) und Initiant der Gesetzesänderung, spielt Bedenken über eine Aushebelung der Arbeitsnormen herunter.

«Diese Abstimmung zielt weder auf eine Liberalisierung der Öffnungszeiten– diese sind in der Kompetenz der Kantone – noch auf eine Änderung der Arbeitsbedingungen ab. Es geht einzig und allein um eine Definition des Angebots», sagt er.

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«Dammbruch»

Doch unlimitiertes Einkaufen an Tankstellenshops zu jeder Tages- und Nachtzeit ist für eine breite Allianz von Gewerkschaften, politisch linken Parteien und Kirchengruppen ein rotes Tuch. Sie betrachten die Abstimmung als einen Kampf zum Schutz der Arbeitsrechte.

«Die Gesetzesänderung bedeutet einen Dammbruch: Was heute bei den Tankstellenshops gilt, wird morgen im ganzen Detailhandel zur Regel», sagt Vania Alleva von der Gewerkschaft Unia.

Kurt Regotz von der Gewerkschaft Syna warnt davor, dass besonders weibliche Angestellte die Hauptlast werden tragen müssen. «Das Verkaufspersonal leidet schon heute unter tiefen Löhnen und Arbeit auf Abruf.»

An einer Medienkonferenz bezweifelte Regotz die Notwendigkeit, in der Nacht einzukaufen: «Das ist etwa so nötig wie das Matterhorn in der Nacht zu beleuchten», betonte er.

Angesichts weiterer Vorschläge zur Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten und Sonntagsverkäufe befürchtet die Allianz, die vorgeschlagene Reform könnte ein «Trojanisches Pferd» für den Detailhandel sein, das eine grössere Nachfrage schaffe und den wirtschaftlichen Nutzen vor die Gesundheit der Arbeitnehmenden stelle.

Und der grüne Nationalrat Daniel Vischer, ein Konsum-Kritiker, argumentiert zudem, mehr 24-Stunden-Shops würden zu mehr Verkehr führen, besonders nachts.

Drei Vorlagen kommen am 22. September an die Urnen in der ganzen Schweiz.

Eine Volksinitiative, welche die obligatorische Wehrpflicht in der Milizarmee abschaffen will, und zwei Referenden gegen eine Änderung des Epidemiegesetzes und eine Änderung des Arbeitsgesetzes.

In der Regel finden nationale Abstimmungen an vier Wochenenden pro Jahr statt.

Abstimmungen und Wahlen werden am 22. September auch in vielen der 26 Kantone und in zahlreichen Gemeinden durchgeführt.

Konsumenten und Bürokratie

Während der letztjährigen Debatten im Parlament begründete Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann, warum die Regierung eine Lockerung der Restriktionen begrüsse. Er argumentierte, die Reform sei für die Geschäfte ein Schritt in Richtung Reduktion administrativer Hürden und würde zudem den Konsumenten entgegenkommen.

«Der Bundesrat sucht sicherlich nicht die 24-Stunden Gesellschaft. Es ist ein Vorschlag für eine bescheidene Öffnung», sagte er letzten September. «Es geht nicht darum, dass man die Nachtarbeit ausdehnt. Die Tankstellenshops werden administrativ entlastet, weil sie künftig zwischen ein und fünf Uhr nachts nicht mehr einen Teil des Sortiments abdecken müssen.»

Er ergänzte, dass es den Kantonen, die in dieser Frage eine weitgehende Autonomie haben, freistehe, strengere Regelungen für die Nachtarbeit zu setzen.

Historische Errungenschaft

Die Lockerung der Einschränkungen von Ladenöffnungszeiten war in den letzten Jahren immer wieder ein Thema an den Urnen – sei es auf nationaler, kantonaler oder lokaler Ebene.

Zwar wurden in den Kantonen in den letzten Jahren fast alle Vorschläge zur Lockerung der Ladenöffnungszeiten vom Stimmvolk abgelehnt. Auf nationaler Ebene hingegen wurde die Idee von vier Sonntagsverkäufen und längeren Öffnungszeiten von Verkaufsgeschäften in Flughäfen und Bahnhöfen an der Urne gutgeheissen.

Das Bundesgericht seinerseits hat 2010 verschiedenen Tankstellenshops im Raum Zürich verboten, von ein bis fünf Uhr nachts geöffnet zu sein. «Die von ihnen angebotenen Produkte rechtfertigen keine Ausnahme vom Nachtarbeitsverbot», schrieb das höchste Gericht.

Im Parlament sind gegenwärtig drei Motionen hängig, die eine Angleichung der Öffnungszeiten in der gesamten Schweiz oder eine Ausdehnung des Sonntagsverkaufs über Tourismus-Regionen hinaus verlangen.

Eine weitere Motion möchte, dass kleinere Verkaufsgeschäfte bis zu einer Fläche von 120 Quadratmetern die Möglichkeit hätten, auch nachts und an Sonntagen geöffnet zu sein.

Der arbeitsfreie Sonntag, seit 1877 im Arbeitsgesetz verankert, gilt als einer der grossen Erfolge der Gewerkschaften. Seit damals warnen diese, dass sogar eine teilweise Flexibilisierung ein Schritt in Richtung Siebentage-Woche sein könnte.

(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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