Giftmord an Arafat wahrscheinlich aber nicht bestätigt
Die Schweizer Forensiker der Universität Lausanne, die den Tod von Jassir Arafat untersuchten, favorisieren die These, dass der ehemalige PLO-Chef vergiftet wurde. Die Resultate würden in beschränktem Rahmen zeigen, dass der Tod auf eine Vergiftung mit Polonium 210 zurückzuführen sei.
In den Proben von Rippen und Beckenknochen sei Polonium 210 in einer bis zu 20 mal höheren Konzentration gefunden worden, als normal, sagte François Bochud, Leiter des Instituts für Radiomedizin des Universitätsspitals Lausanne (CHUV). «Für Gewissheit würden noch viel mehr Informationen gebraucht.»
«Wir konnten nicht kontrollieren, dass die Proben unter Bedingungen konserviert wurden, die wir uns gewünscht hätten», sagte Patrice Mangin, Chef-Forensiker der Uniklinik.
Bochud und Mangin betonten vor den Medien, dass die lange Dauer seit dem Tod von Arafat im 2004, die Qualität der Proben sowie weitere Faktoren die Resultate stark einschränkten. Die Forscher zeigten sich jedoch überrascht über die hohe Konzentration von Polonium 210 in den Proben.
Die Experten hatten Arafats Grab in Ramallah im Westjordanland im November 2012 geöffnet und Gewebeproben der Leiche genommen, um dem seit langem erhobenen Polonium-Verdacht nachzugehen.
Proben analysiert hatten nicht nur Schweizer Wissenschaftler, sondern auch palästinensische, französische und russische Expertenteams. Deren Resultate müssen noch von der Palästinensischen Autonomiebehörde veröffentlicht werden.
Im vergangenen Monat hatte die russische Agentur Interfax einen der russischen Experten zitiert, der sagte, dass eine Vergiftung Arafats mit Polonium ausgeschlossen werden könne. Später stellte die Agentur diese Äusserung jedoch in Abrede.
Politischer Mord?
Die Witwe Suha Arafat hatte schon vor neun Jahren, als Arafat in einem Pariser Spital gestorben war, behauptet, ihr Mann sei Opfer eines politischen Mordes geworden. Seit gestern will sie nun Gewissheit haben.
Nachdem sie die Laborproben der Universität Lausanne erhalten hatte, sagte Suha Arafat, dass es nun wissenschaftlich bewiesen sei, dass er keines natürlichen Todes gestorben sei. «Wir haben ein Verbrechen aufgedeckt.»
Anlass für die Exhumierung der Leiche des ehemaligen PLO-Chefs hatte eine im letzten Jahr ausgestrahlte Dokumentation des katarischen Fernsehsenders Al-Dschasira gegeben.
Auch der Film geht auf Untersuchungsergebnisse des Lausanner Instituts ein. Die Schweizer Experten fanden damals an Arafats Zahnbürste, seiner Unterwäsche und dem Krankenhauskäppi eine ähnlich hohe Poloniummenge, wie jene, die 2006 den russischen Regimekritiker Alexander Litwinenko in London tötete.
Arafats Witwe hatte die Untersuchung vorangetrieben, obwohl sie es selbst gewesen war, die direkt nach dem Tod Arafats eine Autopsie abgelehnt hatte.
Arafat war von 1996 bis zu seinem Tod im November 2004 Präsident der palästinensischen Autonomiegebiete.
Mysteriöse Umstände
Die letzte Reise von Jassir Arafat begann am 29. Oktober 2004. Nach seinem Abschied von Gefolgsleuten im Hauptquartier in Ramallah folgten ihm engste Mitarbeiter auf dem Weg in das französische Militärkrankenhaus Percy bei Paris. Kurz zuvor hatte Arafat einen Zusammenbruch erlitten. Für die Behandlung durfte er erstmals sein seit zwei Jahren vom israelischen Militär belagertes Hauptquartier verlassen. Ein internationales Ärzteteam kommentierte, es müsse geklärt werden, ob Arafat an Krebs, einer Viruserkrankung oder einer Vergiftung leide.
Was sich in den folgenden Tagen in der auf Blutkrankheiten spezialisierten Militärklinik in Clamart abspielte, ist bis heute unklar. Das Gebäude wurde weiträumig abgesperrt; rund um die Uhr hielten Dutzende Sicherheitskräfte Wache. In ihren offiziellen Stellungnahmen beschrieben die Militärärzte zwar ein Krankheitsbild Arafats, zu möglichen Ursachen von Verdauungsproblemen und anormalen Blutwerten wurde allerdings hartnäckig geschwiegen. Lediglich eine von israelischer Seite ins Spiel gebrachte Blutkrebserkrankung schlossen die Mediziner offen aus.
Je länger der Palästinenserpräsident im Krankenhaus lag, desto widersprüchlicher wurden die Informationen zu seinem Zustand.
Während Berater zunächst noch Hoffnungen auf eine baldige Genesung Arafats nährten, diskutierte man in Israel bereits mögliche Beerdigungsorte. Am 4. November 2004, sechs Tage nach Arafats Eintreffen in Frankreich, machten erstmals Nachrichten über den Tod des Palästinenserführers die Runde. Es sollte aber noch einmal eine Woche dauern, bis sie am 11. November offiziell bestätigt wurden.
Vertuschungen?
Bis heute gilt es nicht als ausgeschlossen, dass Frankreich einen Mordanschlag gegen Arafat gedeckt haben könnte – beispielsweise aus Sorge vor einer weiteren Eskalation der Gewalt im Nahen Osten. Israels damaliger Ministerpräsident Ariel Scharon hatte Arafat offen die gezielte Tötung angedroht, weil er ihn für Terroranschläge verantwortlich hielt. Die US-Regierung sah in seiner Person ein Hauptproblem für den stockenden Friedensprozess. Und auch europäische Politiker mieden Arafat, dem eine Blockade notwendiger Reformen in der palästinensischen Autonomiebehörde vorgeworfen wurde.
Kopien der Krankenakte Arafats gingen kurz nach dessen Tod an seine Witwe Suha und seinen Neffen Nasser el Kidwa. Letzterer sagte danach, die Ärzte hätten im Körper des Verstorbenen keine Spuren von Gift gefunden. Er fügte jedoch einen in der Rückschau bedeutenden Satz hinzu. Dieser lautete, man könne eine Vergiftung allerdings auch nicht völlig ausschliessen.
Die These einer Ermordung durch Rivalen aus den eigenen Reihen – zumindest ohne Unterstützung von aussen – erscheint dabei eher unwahrscheinlich: Um das Gift Polonium in grösseren Mengen herzustellen, braucht man einen Nuklearreaktor.
Israel dementiert
Die Palästinenser hegen seit langem den Verdacht, dass israelische Kräfte für den Tod Arafats verantwortlich seien. Ein führendes PLO-Mitglied bezichtigte am Mittwoch nach Bekanntwerden des Berichts Israel der Vergiftung Arafats.
Das israelische Aussenministerium wies die Vorwürfe umgehend zurück und sprach von oberflächlichen Untersuchungen. «Das ist mehr Seifenoper als Wissenschaft», sagte Ministeriumssprecher Yigal Palmor.
Das chemische Element Polonium wurde Ende des 19. Jahrhunderts von Nobelpreisträgerin Marie Curie entdeckt. Das radioaktive Schwermetall ist in geringen Mengen in Uranerzen enthalten. Es kommt in verschiedenen Isotopen vor, darunter Polonium 210.
Pro Jahr werden heute gemäss Schätzungen rund 100 Gramm Polonium hergestellt. Es wird zum Zünden einer Atombombe genutzt, aber auch als Wärmequelle für thermoelektrische Zellen zum Beispiel in der Raumfahrt eingesetzt.
«Viele Hypothesen»
Der Bericht der Schweizer Experten hätte mindestens während 10 Tagen geheim bleiben sollen, sagte Marc Bonnant, einer der Schweizer Rechtsanwälte von Suha Arafat, gegenüber der Westschweizer Tageszeitung Le Temps.
«Die Analyse der Proben hat anormale Konzentrationen des Poloniums ergeben», sagte Bonnant. Kein anderes Gift habe nachgewiesen werden können. Die grosse Dosis des Poloniums könne nicht anders als mit einer Vergiftung erklärt werden. Eine natürliche Kontamination sei ausgeschlossen.
Auf die Frage, wer dafür in Frage käme, sagte Bonnant: «Es gibt viele Hypothesen. Ausländische Geheimdienste, einige beschuldigen Israel, oder eine palästinensische Dissidentengruppe, sogar die Familie des Verstorbenen wurde genannt.»
Wenn die Analysen der anderen Experten sich auf die gleichen Daten stützten, sollten sie ähnliche Resultate erhalten, wie die Schweizer Kollegen, vermutet Bonnant. Sonst werde es zu einem Expertenstreit kommen.
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