Hongkong: Juristischer Alptraum endet für Schweizer Fotografen bitter
Der Schweizer Fotograf Marc Progin geriet in Hongkong in die unerbittlichen Mühlen der dortigen Justiz. Der Grund: 2019 hatte er über eine Demonstration der Demokratiebewegung berichtet. Jetzt, nach vier Jahren und zwei Freisprüchen, hat Progin nun die Rechnung für die Prozesskosten erhalten. Presseorganisationen beklagen eine Hetzjagd.
Marc Progin, unabhängiger Fotograf, der seit fast 50 Jahren in Hongkong lebt, war von der Hongkonger Justiz zwei Mal wegen «Beihilfe zur Störung der öffentlichen Ordnung» angeklagt worden. Beide Male wurde er freigesprochen. Doch nun verweigerte eine Richtering des Höchsten Gerichts dem 78-jährigen ehemaligen Unternehmer die Rückerstattung der Prozesskosten in der Höhe von mehr als 55’000 Franken.
Journalist:innenorganisationen bezeichnen den Fall als «kafkaesk» und haben sich an die Hongkonger Behörden gewandt (siehe Box unten). Marc Progin dagegen hat sich damit abgefunden, dass die Kosten an ihm hängen bleiben – er will endlich einen Schlussstrich unter den vierjährigen juristischen Alptraum ziehen.
«Am falschen Ort zur falschen Zeit»
Alles beginnt am 4. Oktober 2019. Hongkong ist zu diesem Zeitpunkt Schauplatz grosser Demonstrationen gegen ein Projekt, das es Peking nach Ansicht der Protestierenden ermöglichen würde, seinen Griff um die Sonderverwaltungszone zu verstärken. Wie bei jeder Demonstration ist Marc Progin vor Ort, um Fotos zu machen. Doch an diesem Tag eskaliert die Situation.
Es kommt zu einer Auseinandersetzung zwischen einem jungen Bankangestellten aus China und einer vermummten Person, die den jungen Mann mit Schlägen traktiert. Der Fotograf sitzt sozusagen in der ersten Reihe und wird bei seinem Einsatz von Kameras aus der ganzen Welt gefilmt. «Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um das perfekte Foto zu machen», sagt Marc Progin, «aber auch zur falschen Zeit am falschen Ort, wenn man bedenkt, was dann geschah.»
Ein Video des Vorfalls, das von der Nachrichtenagentur Bloomberg online gestellt wurde und in dem Progin als Fotograf zu sehen ist (mit Hygienemaske):
Am nächsten Tag ist der Angriff auf den Chinesen in den Schlagzeilen. Die Bilder davon gehen viral und werden in China zig Millionen Mal angeklickt. Schnell wird Marc Progin von regierungstreuen chinesischen Internet-User:innen identifiziert. Sie starten eine Cybermobbing-Kampagne gegen den Schweizer und beschuldigen ihn, am Vorfall beteiligt gewesen zu sein.
Progin wird sich des Ernsts seiner Lage erst bewusst, als die Polizei kurz vor Weihnachten 2019 vor seiner Tür steht. Er wird festgenommen, dann gegen Kaution freigelassen und schliesslich Ende April 2020 wegen «Beihilfe zur Störung der öffentlichen Ordnung» angeklagt. Diese Straftat wird mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft. Etwas mutet angesichts des Überwachungsapparates seltsam an: Der Aggressor wird nie gefunden.
Progin wird im Herbst 2020 ein erstes Mal vor Gericht gestellt. «Ich habe die Karte der journalistischen Unabhängigkeit voll ausgespielt», erinnert er sich, «das hat mir sehr geholfen.» Aus Mangel an Beweisen erfolgt ein Freispruch, aber die Hongkonger Staatsanwaltschaft geht in Berufung.
Im September 2020 hatte das Westschweizer Fernsehen RTS den Prozess gegen Marc Progin in Hongkong verfolgt (Beitrag in Französisch):
Ende April 2022 wird Marc Progin erneut freigesprochen. Das Justizministerium in Hongkong wird angewiesen, ihm seine Prozesskosten zu erstatten. Der Fotograf glaubt, dass der Fall nun abgeschlossen ist. Aber das ist nicht der Fall. Die Anklage greift nun die Rückerstattung der Prozesskosten an.
«Die Richterin wollte mich im Gefängnis sehen»
Die letzte Entscheidung ist Anfang August gefallen. Die Richterin des Obersten Gerichtshofs des Bezirksgerichts – sie wurde von der von China kontrollierten Hongkonger Exekutive ernannt – annullierte die Rückerstattung von Progins Prozesskosten mit der Begründung, dass «die Beweise falsch analysiert wurden» und «die Handlungen [des Fotografen] ihn belasten».
Die chinesischen Behörden haben regelmässig «ausländische Kräfte» der Einmischung zugunsten von Hongkongs pro-demokratischer Bewegung beschuldigt. «Als ich die Argumentation der Richterin las, wurde mir klar, dass sie mich gerne im Gefängnis gesehen hätte», sagt der Fotojournalist. Sie hat deutlich angedeutet, dass auch die Staatsanwaltschaft gegen das Urteil hätte Berufung einlegen müssen.»
Während Progin nach seinen beiden Freisprüchen begeistert war und öffentlich beteuert hatte, fair beurteilt worden zu sein, sagt der Neuenburger nun, dass er heute jegliches Vertrauen in diese Justiz verloren hat. Dies ist einer der Gründe, warum er auf eine Berufung verzichtet. Denn das Verfahren hätte noch ein weiteres Jahr gedauert und ihn dann über 110’000 Franken gekostet – ohne jegliche Sicherheit, dass er gewinne. «Moralisch habe ich gewonnen und das ist das Wichtigste».
Die Schweizer Sektion der Union de la presse francophone hat in Zusammenarbeit mit den Vorständen der Press Emblem Campaign und von ROG-Schweiz an den für auswärtige Angelegenheiten zuständigen Bundesrat Ignazio Cassis und den neuen Staatssekretär Alexandre Fasel geschrieben. Sie forderten sie auf, die Entscheidung, Marc Progin freizusprechen und ihm das Recht auf Rückerstattung seiner Prozesskosten zuzugestehen, zu respektieren. Sie haben auch einen Protestbrief an den chinesischen Botschafter in der Schweiz geschickt.
Auf Anfrage von swissinfo.ch erklärte das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA), dass es die Gerichtsentscheide nicht kommentiere und bestätigte lediglich, dass es «über die Schweizer Vertretung in Hongkong in Kontakt [mit Marc Progin] stehe» und «[ihn] im Rahmen des Konsularischen Schutzes unterstütze».
Die chinesische Botschaft in der Schweiz reagierte nicht auf eine E-Mail-Anfrage.
«Abschreckung ausländischer Journalist:innen»
Marc Progin sagt, dass seine Geschichte das «Klima der Angst» veranschauliche, das in Hongkong herrscht, seit 2020 das von Peking auferlegte und von Menschenrechtsorganisationen als freiheitsfeindlich bezeichnete Gesetz zur nationalen Sicherheit in Kraft getreten ist. Mit diesem Paragrafen hat die Regierung Tausende Personen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Auch wenn ihnen vorgeworfen wurde, auch nur am Rande an den Protesten beteiligt gewesen zu sein.
«Es ist sehr schwierig geworden, Informationen zu verbreiten. Und Kritik kommt nur schwer an, es herrscht eine Art Selbstzensur», sagt Progin. «Man traut sich nicht mehr, etwas zu sagen, es gibt überall Ohren, alles wird gefilmt und es gibt Aufrufe zur Denunziation.»
Die Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG), die vor kurzem eine Stellungnahme zum Fall Progin herausgegeben hat, prangert einen «Kreuzzug gegen den Journalismus» an und erinnert daran, dass in den letzten drei Jahren fast 30 Journalist:innen und Verteidiger:innen der Pressefreiheit von der Regierung Hongkongs verfolgt wurden. Mehrere Medien wurden zudem geschlossen.
«Die Kampagne der juristischen Schikanen, die (…) gegen (…) Marc Progin (…) inszeniert wurde, soll offensichtlich ausländische Journalisten abschrecken, die über künftige Proteste berichten wollen», kritisiert Cédric Alviani, Leiter des Asien-Pazifik-Büros von ROG.
Angesichts dieser «sehr harten» Situation liessen die Hongkonger und Hongkongerinnen, die bleiben, «den Kopf hängen und arbeiten». Aber viele würden sich dafür entscheiden, Hongkong zu verlassen, sagt der Fotograf und spricht von einer «Ausblutung».
Der ehemalige Uhrenindustrielle möchte mit seiner Familie in der ehemaligen britischen Kronkolonie bleiben, in der er mehr als die Hälfte seines Lebens verbracht hat. «In Hongkong gehöre ich gewissermassen zum Mobiliar», scherzt er. «Ich bin natürlich immer noch Schweizer, aber ich habe eine grosse Zuneigung für die lokale Bevölkerung, die sehr mutig ist.»
Die RTS-Sendung zum Fall Marc Progin (in Französisch):
Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi
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