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«Konflikte verstädtern, Ursachen vermischen sich – das ist neu und explosiv»

Aufnahme von IKRK-Präsident Peter Maurer, im Hintergrund zerstörte Gebäude.
Nach einem Luftangriff der von Saudi-Arabien angeführten Militärkoalition: IKRK-Präsident Peter Maurer in Jemens Hauptstadt Sanaa (Archiv). Keystone/EPA/Yahaya Arhab

Tausende Migranten ertrinken im Mittelmeer, Zehntausende sind eingesperrt in Libyen, Krieg und Elend in Syrien und im Jemen, ethnische Säuberungen in Burma: Die Liste der Krisenherde ist noch länger, das Internationale Komitee des Roten Kreuzes steht in mehr als 80 Ländern im Einsatz. IKRK-Präsident Peter Maurer zieht im Gespräch mit swissinfo.ch eine Bilanz des ausklingenden Jahres und wagt einen Ausblick ins 2018.

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swissinfo.ch: War 2017 ein besonders schlimmes Jahr für das IKRK?

Peter Maurer: Nein, es kam 2017 nicht zu einer Eskalation der Lage – leider aber auch nicht zu einer Entspannung. Es ist die Entwicklung der letzten fünf Jahre, die sehr besorgniserregend ist: Die Konflikte werden mit grosser Grausamkeit und unter Verletzung des humanitären Völkerrechts geführt. Ausserdem verstädtern sie sich zunehmend, Aleppo in Syrien und Mossul im Irak stehen symbolisch für diese Tendenz. Und schliesslich vermischen sich politische Ursachen von Konflikten zunehmend mit kriminell-, terroristisch- und interethnisch-motivierter Gewalt – ein besonders explosives Gemisch.

swissinfo.ch: Wie äussert sich diese Verschlechterung in den letzten fünf Jahren?

P.M.: Wir stellen fest, dass die Konflikte immer länger dauern und die Zahl der Vertriebenen steigt, sei das im Land selber oder ausserhalb der Landesgrenze. Sozialsysteme brechen zusammen, Erziehung, Gesundheit, Wasserversorgung. Wirtschaftssysteme werden geschwächt, es rutschen heute auch Länder mittleren Einkommens in die Krise und werden von Gewalt beherrscht. Die bescheidenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritte der Jahre 2000 bis 2010 verschwinden zunehmend.

«Einzig der Konflikt in Kolumbien hat sich 2017 positiv entwickelt.»

swissinfo.ch: Das alles ergibt eine Landschaft, die wenig positiv stimmt. Gab es aus Sicht des IKRK 2017 auch Lichtblicke?

P.M.: Ja, ich möchte hier nicht in die übliche Endjahreskakofonie einstimmen, die überall nur Negatives sieht. Schon allein, dass es uns in all diesen schwierigen Situationen gelingt, überhaupt aktiv zu sein, ist positiv. Es gelingt uns trotz allem Räume zu schaffen, in denen das humanitäre Völkerrecht eingehalten wird. Konkret hat sich 2017 der Konflikt in Kolumbien in eine positive Richtung entwickelt. Das zeigt, dass wenn politischer Wille besteht, ein Konflikt zwar nicht von einem auf den anderen Tag gelöst, aber wenigstens in geordnetere Bahnen gelenkt werden kann.

swissinfo.ch: Der sogenannte Islamische Staat hat 2017 sowohl in Syrien als auch im Irak massiv an Terrain verloren. Inwiefern ist das eine gute Nachricht?

Klar kam es zu einer Verschiebung der Frontlinien in den vom IS besetzten Regionen. Aufgrund unserer Erfahrung muss ich aber leider sagen: Wenn solche nichtstaatlichen bewaffneten Gruppierungen wie der IS territorial zurückgedrängt werden, ohne im Anschluss die Probleme an der Wurzel zu lösen, tauchen diese Gruppierungen anderswo wieder auf. Konkret beispielsweise auf den Philippinen.

«Der Nahe Osten wird uns 2018 sicher beschäftigen. Wir vermissen echte Friedensbemühungen der grossen und regionalen Mächte.» 

swissinfo.ch: Territoriale Zurückdrängung ist also nicht mit Stabilisierung zu verwechseln…

P.M.: Nein, davon sind wir weit entfernt. Die Frontlinien in Syrien sind zwar nicht mehr die gleichen wie anfangs Jahr. Doch für die Zivilbevölkerung hat sich die Situation eher noch zugespitzt. Auf der einen Seite gehen Gewalt und Vertreibungen weiter. Und auf der anderen Seite kehren Vertriebene in stabilisierte Regionen zurück. Das erhöht auch den Druck auf das IKRK.

swissinfo.ch: Bereitet Ihnen die Situation im Nahen Osten mit Blick auf das kommende Jahr Bauchschmerzen?

P.M.: Der Nahe Osten wird uns 2018 sicher beschäftigen. Wir vermissen echte Friedensbemühungen der grossen und regionalen Mächte. Es sieht momentan sogar eher danach aus, als ob sich der Konflikt noch verschärfen oder gar ausweiten könnte, Stichwort Libanon.

Beschäftigen wird uns 2018 aber auch weiterhin der mangelnde Respekt des humanitären Völkerrechts, der Mangel an Sicherheit für unsere humanitären Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sowie der mangelnde Zugang zu Zivilbevölkerungen und Gefangenen.

swissinfo.ch: Zugang beispielsweise auch zu den Migranten, die im Norden Libyens in sogenannten Flüchtlingszentren festgehalten werden?

P.M.: Das IKRK hat nur einen ausserordentlich beschränkten Zugang zu diesen Zentren, und wir sind weit davon entfernt, gute Besuche in den Transitlagern machen zu können. Es besteht kein Zweifel, dass das eine unserer grossen Herausforderungen für 2018 sein wird.

swissinfo.ch: Der Umgang Europas mit den Menschen, die versuchen, über das Mittelmeer zu uns zu kommen, sorgte in unseren Breitengraden 2017 für viel Diskussionsstoff. Ihre Haltung ist klar: Europas einseitige «Abschottungspolitik» wird das Problem nicht lösen.

P.M.: Ich kritisiere nicht, dass die europäischen Staaten ihre Grenzen schützen und die Migration kontrollieren wollen. Es bringt aber nichts, wenn Europas Regierungen einfach ihre Grenzen schliessen, ohne sich Gedanken über die unmittelbaren humanitären Folgen eines solchen Entscheides zu machen.

swissinfo.ch: Was schlagen Sie den Regierungen Europas stattdessen vor?

P.M.: Der Migrationsgipfel in Bern Mitte November hat gezeigt, dass es sinnvoll ist, wenn humanitäre Organisationen, Innen- , Verteidigungs- und Sicherheitsminister am Tisch sitzen und reden. Das Verständnis für die Notwendigkeit differenzierterer Instrumente wächst: Kontrolle ist das eine. Es braucht aber auch Investitionen im Süden, um den Menschen ein würdiges Leben in ihrem eigenen Land zu ermöglichen. Und die Möglichkeit einer kontrollierten, legalen Arbeitsmigration. Es geht darum, für die jungen Menschen Perspektiven zu schaffen. Die Regierungen sollten aber auch über ein neues Schutzregime nachdenken: Wenn schutzbedürftige Menschen nicht mehr in die Kategorie des Flüchtlings passen, ist es an den nationalen Gesetzgebern, neue Kategorien zu schaffen, um diese Menschen vorübergehend zu schützen.

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Peter Maurer wurde 1956 in Thun geboren. Er studierte Geschichte, Politikwissenschaften und Völkerrecht in Bern und Perugia (Italien).

1987 trat er in den Dienst des Departements für auswärtigen Angelegenheiten (EDA) ein, wo er verschiedene Funktionen inne hatte.

Unter anderem war er von 1996 bis 2000 erster Mitarbeiter des Chefs der damaligen Ständigen Beobachtermission der Schweiz bei der UNO in New York. 2000 wurde er zum Botschafter ernannt und war bis 2004 Chef der damaligen Politischen Abteilung IV der Politischen Direktion im EDA in Bern.

Von September 2004 bis Frühjahr 2010 war er UNO-Botschafter der Schweiz in New York, ab März 2010 EDA-Staatssekretär.

Am 1. Juli 2012 trat Maurer sein Amt als IKRK-Präsident an. 2015 wurde er von der Versammlung des Komitees für weitere vier Jahre (bis Juni 2020) im Amt bestätigt.

Maurer ist verheiratet und Vater von zwei Töchtern.

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