Im Schatten der Mauer im Westjordanland
Als in Berlin 1989 die Mauer fiel, dachten viele, die Zeit der Mauern sei nun endgültig vorbei. Doch seit 2002 wird im Westjordanland an einer neuen Mauer gebaut. Stefan Ziegler dokumentiert für die UNO, wie sich der Bau der Sperranlage auf die Palästinenser auswirkt.
Sie erinnert viele Besucher an Berlin, die Mauer, die Israel vom Westjordanland trennt. Manche – wie der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi – nehmen sie gar nicht wahr. Israel nennt sie offiziell Sicherheitszaun.
Für die Menschen in Bethlehem, Jerusalem und Ramallah sind die Betonelemente von bis zu acht Metern Höhe jedoch eine Mauer. Sie trennen Strassen, Felder, Quartiere und vor allem Menschen voneinander.
Um sich vor Angriffen militanter Palästinenser zu schützen, beschloss das israelische Kabinett 2002 den Bau einer Sperranlage. Die projektierte Gesamtlänge beträgt 700 Kilometer, über die Hälfte der Anlage ist inzwischen fertig gestellt.
«Das Sicherheitsempfinden der Israeli hat sich sicherlich erhöht, seit mit dem Bau der Mauer begonnen wurde, doch der Preis für die Palästinenser ist enorm hoch», sagt Stefan Ziegler, Projektleiter der Barrier Monitoring Unit BMU, in seinem Büro in Ramallah. «Wir schätzen, dass rund eine halbe Million Palästinenser von den Auswirkungen des Mauerbaus betroffen sind.»
Illegal errichteter Sperrwall
2004 hielt der Internationale Gerichtshof in Den Haag fest, dass Israel mit dem Bau der Sperranlage gegen internationales Recht verstösst und forderte die Regierung dazu auf, den Betrieb der zur selben Zeit eingeführten Checkpoints zu beenden.
Die Illegalität besteht nicht im Bau der Mauer an sich, sondern weil 85 Prozent der Sperranlage innerhalb des Westjordanlands gebaut werden und den Palästinensern so rund 10 Prozent ihres Territoriums verloren gehen.
Dazu gehört nicht zuletzt wertvolles Ackerland, wie dies Stefan Ziegler an einem Beispiel erläutert: «Stellen Sie sich vor, Sie wären Landwirt und würden Oliven kultivieren. Plötzlich beschliesst die Besatzungsmacht, dass zwischen Ihrem Haus, wo Sie Zeit Ihres Lebens gewohnt haben, und Ihren Feldern eine Mauer gebaut wird.»
Und man stelle sich weiter vor, sagt der 45-jährige Projektleiter, dass man während fast zwölf Monaten pro Jahr keinen Zugang zu den eigenen Feldern hat, die Bäume weder bewässern noch schneiden noch etwas anderes anbauen darf.
«Falls Sie Glück und alle Bewilligungen eingereicht haben, dürfen Sie vielleicht zur Erntezeit Ihre Oliven pflücken gehen, allerdings ohne Traktor oder Eselskarren. Falls Sie Pech haben, lässt man Sie nicht zu Ihren Oliven oder aber es wachsen keine mehr, weil Sie an 355 Tagen pro Jahr keinen Zugang zu Ihrem Land hatten und die Bäume nicht pflegen konnten.»
Von Jerusalem abgeschnitten
Das Regime, das Israel in den letzten Jahren eingeführt hat, ist komplex. Das zeigt zum Beispiel der Verlauf der Mauer im Ostteil Jerusalems.
Israel sieht Jerusalem als ewige und ungeteilte Hauptstadt des jüdischen Staates. Sämtliche Botschaften – inklusive jene der USA – haben ihren Sitz jedoch in Tel Aviv, denn laut UNO, EU und den allermeisten Ländern gehört Jerusalem sowohl Israel als auch den Palästinensern. Soweit die Theorie.
In der Praxis hat Israel den Ostteil der Stadt 1967 jedoch annektiert und die Mauer wird nun um die Stadt herum gebaut. So werden nicht nur die rund 200’000 Palästinenser, die in Jerusalem leben, von ihrem Hinterland, dem Westjordanland, getrennt, sondern auch die Bewohner des Westjordanlands vom kulturellen, spirituellen und ökonomischen Zentrum Palästinas abgeschnitten.
«Die Mauer wurde also nicht nur quer durch Olivenhaine und Dörfer geführt, sondern schneidet im Osten Jerusalems auch ganze Stadtteile entzwei», sagt Stefan Ziegler.
«So finden sich tausende Menschen plötzlich auf der ‹falschen› Seite der Mauer wieder und müssen sich stundenlag anstellen, um ins Krankenhaus oder in die Schule zu kommen.» Dass einige zu spät oder gar nicht ankommen und so ihre Arbeit verlieren, gehört zur Tagesordnung.
«Nur was dokumentiert wird, existiert»
Nicht immer gehe es um Leben und Tod, fast immer jedoch darum, dass den Leuten ein würdiges Leben verunmöglicht werde.
Laut Stefan Ziegler gibt es Dörfer, die früher Gemüse und Früchte bis nach Saudi-Arabien exportiert hätten und heute auf Nahrungsmittelhilfe des Welternährungs-Programms der UNO angewiesen sind.
«Deswegen sind wir da, schauen hin, analysieren und publizieren unsere Daten. Denn was nicht dokumentiert wird, existiert nicht. Und was nicht existiert, wird nicht wahrgenommen.»
Das hat Ziegler bei einem Besuch Berlins als Teenager erlebt. Obwohl er wusste, dass die Stadt durch eine Mauer getrennt war, konnte er sich erst vor Ort ein Bild davon machen, was es heisst, in einer geteilten Stadt zu leben.
Ob 1982 in Berlin oder 2011 in Ramallah: Stefan Ziegler kann ungehindert hin und her reisen. Der grossen Mehrheit der Palästinenser ist dies untersagt. Wer im Westjordanland wohnt, darf nur nach Jerusalem einreisen, wenn er oder sie eine Arbeitsbewilligung hat. Doch diese ist so schwierig zu bekommen, dass viele israelische Firmen, die früher Palästinenser beschäftigt haben, heute Gastarbeiter aus Thailand einstellen.
«So spannend meine Arbeit hier auch ist, so deprimierend ist sie gleichzeitig», meint Ziegler denn auch. «Wer hätte gedacht, dass knapp 20 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer erneut eine Mauer errichtet würde, um Menschen von anderen Menschen zu trennen.»
Die Barrier Monitoring Unit BMU ist dem UNO-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge UNRWA angegliedert und existiert seit März 2010.
Lokale Partner sind die Universität Bir Zeit bei Ramallah und das Zentralbüro für Statistik der Palästinensischen Autonomiebehörde.
Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) finanziert das Projekt mit insgesamt 1,5 Millionen US-Dollar.
Das Projekt ist auf drei Jahre befristet und sollte danach in die Hände lokaler und internationaler Partner übergehen.
Seit 2010 ist der Zürcher Stefan Ziegler (45) Projektleiter der Barrier Monitoring Unit.
Zuvor war er beim UNO-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge UNRWA und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) tätig.
Während 10 Jahren hat er zwei Restaurants in Irland geführt.
Von der geplanten Sperrmauer erfuhr Ziegler erstmals 2002, als er an einem Olivenbaum im Westjordanland einen Zettel fand, der darauf hinwies, dass hier bald ein Zaun errichtet würde.
Niemand ahnte damals, was für eine Art Zaun damit gemeint war.
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