«In Aserbaidschan habe ich mehr Freiheit als in der Schweiz»
In der Nacht von Montag auf Dienstag kündigte der russische Präsident Wladimir Putin die Unterzeichnung eines totalen Waffenstillstands zwischen Armenien und Aserbaidschan an, die in den vergangenen sechs Wochen in der Region Berg-Karabach tödliche Kämpfe geführt haben. Laurent Valette aus Genf lebt seit 7 Jahren in Aserbaidschan und unterstützt seine Wahlheimat.
Die Coronavirus-Pandemie und in den letzten Tagen die US-Präsidentschaftswahlen haben in den Medien im Mittelpunkt des Interesses gestanden. Am 9. November jedoch trat der Konflikt in Berg-Karabach mit der Ankündigung eines Friedensabkommens wieder in den Vordergrund.
Vor einigen Wochen sprach SWI swissinfo.ch mit einem Auslandschweizer, der mit seinen Kindern aus Armenien in die Schweiz geflohen war. Im Interesse der Ausgewogenheit wollten wir einem der 32 Auslandschweizer, die in Aserbaidschan leben, das Wort erteilen.
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Laurent Valette ist einer dieser Auslandschweizer. Der 42-jährige Westschweizer ist Uhrmacher. Er wurde in Genf ausgebildet und arbeitete für angesehene Schweizer Uhrenmarken, bis ihm einer seiner Kunden – ein Aserbaidschaner – sagte, er suche einen Uhrmacher, der in Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, arbeiten wolle. Nach einer Enttäuschung in der Liebe beschloss er im Jahr 2013, den Sprung zu wagen.
Aserbaidschan im Herzen
Ein fünfminütiges Telefongespräch mit Laurent Valette reicht aus, um seine Liebe zu seiner Wahlheimat zu verstehen. Der Genfer spricht begeistert von den Sandsteinhäusern der Hauptstadt, den atemberaubenden Landschaften und der Lebensqualität, die er dort vorgefunden hat: «Solange ich keine Nachricht von der Botschaft bekomme, die mich auffordert, das Land zu verlassen, bleibe ich hier». Auch wenn gerade erst ein Friedensabkommen unterzeichnet wurde, zeigt die Nichteinhaltung früherer Waffenstillstände, dass die Lage weiterhin prekär ist.
Laurent Valette glaubt, dass «die Menschen in Europa das Gefühl verloren haben, sich gegenseitig zu helfen, während diese Werte in Aserbaidschan immer noch existieren». Zudem schränkt das Land seiner Meinung nach die individuellen Freiheiten viel weniger ein. Zur Veranschaulichung führte er das Beispiel eines Grundstücks an, das er im französischen Jura besitzt. Um da mit einem Geländewagen hin zu fahren, benötige er eine Bewilligung der Behörden. «Hier kann ich überall hinfahren, ohne dass jemand etwas dazu sagt.»
Auch wenn es in Aserbaidschan keine Meinungs- und Pressefreiheit gebe, fühle er sich als Mensch freier, sagt Valette. Die ehemalige Sowjetrepublik ist indessen nicht bekannt für eine lebendige Demokratie oder dafür, ihren Bürgern viele Freiheiten zu gewähren.
Laut Reporter Ohne GrenzenExterner Link führt Präsident Ilham Aliev «seit 2014 einen erbarmungslosen Krieg gegen kritische Stimmen. Amnesty InternationalExterner Link wirft dem aserbaidschanischen Führer die Unterdrückung des Rechts auf freie Meinungsäusserung, unfaire Gerichtsverfahren, Schikanen, Folter und andere Menschenrechtsverletzungen vor.
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Auslandschweizer flüchtet mit Familie vor Konflikt in Berg-Karabach
Wie erkennt man die Wahrheit?
Auf dem Facebook-Profil Valettes findet sich viele Beiträge, welche die aserbaidschanische Sichtweise unterstützten. Obwohl er sich der Mängel des Landes in Bezug auf die Menschenrechte bewusst ist, sagt Laurent Valette: «Ich glaube nicht, dass die Regierung uns anlügt. Täglich sehen wir Nachrichten über den Vormarsch der Armee im Fernsehen. Wissen wir danach genau, wie die Situation ist? Nein.»
Und was ist mit der Tatsache, dass die Regierung seit Beginn des Konflikts Webseiten wie YouTube und Facebook blockiert hat? «Es dient der Sicherheit, um zu verhindern, dass Menschen falsche Informationen sehen und verbreiten. Ich denke, es ist eine gute Sache», sagt Valette.
Er bezieht sich auf ein Foto, das in den letzten Wochen in sozialen Netzwerken in Umlauf gebracht wurde. Es zeigte ein Auto, das auf einem Platz von einer Rakete zerstört wurde. «Die Armenier behaupten, dieses Bild sei in ihrem Land aufgenommen worden, aber wenn man es in seiner Gesamtheit betrachtet, erkennt man das Schaufenster eines aserbaidschanischen Ladens.»
Journalisten vor Ort und verschiedenen internationalen Beobachtern zufolge ist es derzeit schwierig, bezogen auf solche Ereignisse zwischen Wahrheit und Fälschung zu unterscheiden.
Für Laurent Valette kämpft Armenien um ein Territorium, das dem Land nicht zugehört und nie entsprechend anerkannt wurde. «Es ist unglaublich», sagt er. «Aserbaidschan versucht nicht, in Armenien einzumarschieren, es will nur die Menschen zurückdrängen, die das Gebiet seit mehr als 30 Jahren besetzen».
Ein persönliches und finanzielles Interesse?
Der Auslandschweizer hat in den sieben Jahren, die er in Baku lebt, eine Familie gegründet. Er ist mit einer aserbaidschanischen Frau verheiratet und hat eine fünfjährige Tochter. Er hat sich ein «grosses Haus» gebaut und geniesst eine sehr gute berufliche Situation. Er ist offizieller Vertriebspartner der Marke Rolex und hat eine eigene Uhrenmarke geschaffen – Einzelstücke nach Mass.
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Berg-Karabach steht wieder in Flammen
Valette bestreitet, aus persönlichen oder wirtschaftlichen Interessen, für das Land, das ihn beherbergt, Stellung zu beziehen. «Ein anderer Standpunkt hätte keine Konsequenzen», sagt er. Er beabsichtigt auch, seine Firma so bald wie möglich in der Schweiz registrieren zu lassen, um dort Geschäfte machen zu können, da der Markt für Luxusuhren in Aserbaidschan klein ist. «Ich habe also auch kein wirtschaftliches Interesse», sagt er.
In den frühen 1920er Jahren stand Stalin an der Spitze der UdSSR. 1921 beschloss er, das Gebiet Berg-Karabach, dessen Bevölkerung bereits überwiegend armenisch-christlich geprägt war an Aserbaidschan anzuschliessen, mit seiner schiitisch-muslimischen Mehrheit. Eine Zwangsheirat, die fast 70 Jahre andauerte. Erst 1988, im liberalen Klima der PerestroikaExterner Link von Michail Gorbatschow, beschlossen die Führer von Karabach, sich von Aserbaidschan abzuspalten, und stimmten für den Beitritt zu Armenien.
1991, zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der UdSSR, proklamierte Berg-Karabach einseitig seine Unabhängigkeit. Dann begann ein Krieg, der drei Jahre dauern und fast 30.000 Tote fordern und Hunderttausende von Flüchtlingen hervorbringen sollte.
Die gewaltsamen Zusammenstösse zwischen den beiden Armeen veranlassten die internationale Gemeinschaft zu einer Reaktion. So beschloss die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) 1992 die Einrichtung der Minsk-Gruppe, einer europäischen Organisation unter dem gemeinsamen Vorsitz Frankreichs, der Vereinigten Staaten und Russlands, mit der Aufgabe, Verhandlungen aufzunehmen und eine friedliche Lösung des Konflikts zu finden.
1994 gelang es dem europäischen Gremium, einen Waffenstillstand durchzusetzen, ohne jedoch den Konflikt zu lösen. Im Jahr 2016 leitete ein aserbaidschanischer Angriff den Beginn des «Vier-Tage-Krieges» ein, der rund 100 Tote fordern sollte.
(Quelle: TV5MondeExterner Link)
Marc Leutenegger
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