Die Schweiz hat Joe Biden und der Demokratie-Welt viel zu bieten
Am Demokratie-Weltgipfel vom Dezember, zu dem US-Präsident Joe Biden eingeladen hat, nimmt auch die Schweiz teil. Das kleine Land, das sich wie kaum ein anders auf Konfliktlösung, Konsensfindung und Machtteilung versteht, will die Chance zur Profilierung packen
Joe Biden liefert: Mit dem «Summit for Democracy»Externer Link vom 8. bis 10. Dezember löst der US-Präsident ein Wahlversprechen ein.
Für die Schweiz ein wichtiges Ereignis. Der Anlass könnte einen wichtigen Impuls liefern, um künftig das Wissen um demokratische Verfahren selbstbewusster in die weltpolitische Waagschale zu werfen.
Die Staatspräsident:innen, Premierminister:innen und ranghohen Botschafter:innen sollen sich am Gipfel verpflichten, die Menschenrechte und den Kampf gegen Korruption sowie gegen Autokratie und Autoritarismus zu stärkenExterner Link.
Nicht eingeladen sind Russland, China, die Türkei oder Ungarn. Dabei sind hingegen Staaten wie Indien, Irak, Kosovo und Taiwan.
Die Rolle der Schweiz
Und die Schweiz. Sie ist zwar klein, aber mit ihren partizipativen und föderalen Mitbestimmungs-Formen auf allen drei Ebenen Bund, Kantone und Gemeinden eine Art Demokratie-Schwergewicht.
Die regelmässigen Volksabstimmungen werden international zwar als eine Art Kuriosum wahrgenommen. Das Prestige der Schweiz machen hingegen immer noch Werte wie Sicherheit, Stabilität, Lebensqualität, schöne Natur, Neutralität, die Diplomatie der guten Dienste sowie Forschung und Entwicklung.
Dabei, und das ist bis heute wenig bekannt, ist Demokratie-Förderung eine zentrale Säule der Schweizer Aussenpolitik. Das seit 1999 respektive 2003, seit Aufnahme von Artikel 54 in die Bundesverfassung und dem entsprechenden Bundesgesetz. Doch es gibt bis heute kaum eine schweizerische Demokratie-Aussenpolitik.
Schweiz schärft ihr Profil
Für Simon Geissbühler kommt der Demokratie-Gipfel auch daher zum richtigen Zeitpunkt. Geissbühler ist Botschafter und Leiter der Abteilung Frieden und Menschenrechte im schweizerischen Aussenministerium (EDA)Externer Link.
«Die Schweiz will nicht einfach Anhängsel des Biden-Gipfels sein. Vielmehr verleiht dieser uns einen neuen Impuls, unsere bisherigen Aktivitäten in dem Bereich zu bündeln und uns mit unserem Modell und unserem Knowhow konstruktiv und glaubwürdig einzubringen»
Dabei, so Geissbühler, sollten durchaus auch dessen Mängel erwähnt werden, etwa die sehr späte Einführung des Frauenstimmrechts.
Menschenrechte und Mediation
Geissbühler respektive Bundespräsident Guy Parmelin werden am Gipfeltreffen aber nicht in erster Linie die Volksrechte der Schweiz propagieren. Vielmehr rücken sie grundlegende Werte und InstitutionenExterner Link in den Vordergrund, die überall auf der Welt Voraussetzung sind für eine starke Demokratie. «Hier hat das EDA viel zu bieten», so Geissbühler. Er nennt die Menschenrechte, Konfliktlösung, Rechtsstaatlichkeit, Schutz von Minderheiten, Dezentralisierung und lokale Mitbestimmung.
Mit den letztjährigen Präsidentenwahlen, an denen sich mehr Menschen beteiligten denn je zuvor, haben die USA ein wichtiges Zeichen gesetzt: Der Abbau der Demokratie folgt keinem Naturgesetz, sondern lässt sich stoppen.
Sie schufen damit das von vielen so herbeigesehnte positive Narrativ, dass Amerika als älteste und emblematische Demokratie zwar angeschlagen, aber robust genug ist, Trumps Attacken auf Grundwerte ein Ende zu setzen.
Darauf folgt nun Bidens «Call to Action» – die Einladung, oder besser die verbindliche Aufforderung an die Länder der Welt, die Mitbestimmung der Menschen zu stärken und den Gefahren der Alleinherrschaft zu begegnen.
Mit dem Weltdemokratie-Gipfel vom 9. und 10. Dezember 2021 startet ein Prozess, der Parallelen zu den globalen Klimaschutzkonferenzen COP aufweist («Conference of the Parties»). Der erste Weltgipfel zum Klimaschutz war 1992, jüngst fand im schottischen Glasgow die 26. Konferenz statt (COP26, hier unser Schwerpunkt).
Wie beim COP-Prozess sind nun beim ersten Weltdemokratie-Gipfel die eingeladenen Staaten aufgerufen, sich zu konkreten Massnahmen zum Schutz der Menschenrechte und Demokratie zu verpflichten. Die gemeinsame Grundlage dafür bietet die UNO-Charta der Allgemeinen Menschenrechte.
Am nächsten Demokratiegipfel in einem Jahr soll berichtet werden, ob und wie die zugesagten Massnahmen umgesetzt worden sind, dies im Sinne eines globalen Lernprozesses.
Eingeladen zum ersten Weltdemokratie-Gipfel sind 110 Staaten aus sechs Kontinenten (vgl. Karte): 39 Länder aus Europa, 27 aus den Amerikas, 21 aus Ozeanien, 17 aus Afrika und sechs aus Asien. Dabei fällt auf, dass fast alle Länder, die in den führenden internationalen Demokratierankings [Link zu unserem Fokus] die vorderen Plätze einnehmen, am Gipfel mitreden dürfen.
Es gibt aber auch Ausnahmen. So hat US-Präsident Joe Biden, der die Initiative zu dieser Konferenz ergriffen hat, relativ demokratische Staaten wie Tunesien (Platz 42 im V-Dem RankingExterner Link), Burkina Faso (57) oder Lesotho (61) nicht eingeladen.
Gleichzeitig dürfen sich am «Democracy Summit» Staaten äussern, die zu den undemokratischeren dieser Welt gehören. So etwa die Demokratische Republik Kongo (137. im V-Dem-Ranking), Irak (124) und die Philippinen (108).
Nicht eingeladen wurden Staaten, die in den Rankings ganz schlecht abschneiden, darunter die Grossmächte China (174) und Russland (153). Sie haben den Demokratiegipfel-Prozess denn auch scharf kritisiert: In einem Gastbeitrag im US-amerikanischen Magazin «The National Interest»Externer Link bezeichnen die Diplomaten der beiden Grossmächte, Qin Gang und Anatoly Antonow, das Treffen als «Produkt einer Kalten-Kriegs-Mentalität» und betonen, dass Demokratie «auf unterschiedliche Weise realisiert» werden könne. (Bruno Kaufmann)
Machtteilung als Schweizer Trumpf
Dass die Schweiz bezogen auf ihre Expertise in Demokratie selbstbewusst auftreten kann, wie es Simon Geissbühler formuliert und verkörpert, befürwortet auch der Politikwissenschaftler Daniel BochslerExterner Link nur unterstützen. «Die Schweiz hinterlässt international einen sehr grossen Fussabdruck.» Bochsler lehrt und forscht an der Central European University in Wien, der Universität Belgrad und am Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA).
Die grössten Pluspunkte der Schweiz sieht Bochsler in ihrem Knowhow in den Bereichen der Konflikt-Mediation und der Systeme des Power Sharing oder Machtteilung.
«Das ‹Power Sharing› ist Schweiz pur! Ihr Föderalismus und die Konkordanz betreffend Sprachen und Religionen ist das erfolgreichste Modell für Nachkriegsgesellschaften überhaupt», ist Bochsler überzeugt. Aber die Schweiz könne Ländern, die einen Konflikt bewältigen wollen, nicht einfach ihre Verfassung und die dort verankerten Volksrechte verkaufen. Vielmehr erarbeite sie heute vor Ort mit den Akteur:innen politische Lösungen, welche die wichtigsten gesellschaftlichen Gruppen einbinden würden.
Massgeschneiderte Konfliktlösungen
Als Beispiel in der internationalen Mediation und Friedensförderung nennt Bochsler die Schweizerische Friedensstiftung SwisspeaceExterner Link.
Als deren wichtigste Instrumente nennt Bochsler inklusive Parlaments- und Regierungswahlen, ein Vetorecht für Minderheiten bei Verfassungs- und Gesetzesänderungen sowie Autonomie für sprachliche und religiöse Gruppen. Die Grundlagen dazu aus der Toolbox Schweiz sind der Föderalismus, die «Zauberformel» zur stabilen Zusammensetzung der Regierung oder die Lokaldemokratie auf Ebene der Gemeinden.
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Übrigens: Wegen einer veränderten Parteienlandschaft wird in der Schweiz aktuell eine Überarbeitung dieser so genannten Zauberformel diskutiert. Genauer die Grösse der Regierung. Diese soll laut taufrischem Entscheid des Nationalrats, der grossen Parlamentskammer, von sieben auf neun Mitglieder aufgestockt werden.
«Viele Aspekte des Power Sharing sind in der Schweiz nicht in der Verfassung verankert. Vielmehr resultierten sie aus Übereinkommen der politischen Eliten, die sich langsam aus dem historischen Kontext entwickelt hatten», sagt Bochsler. Deshalb könnten solche spezifisch-historischen Mechanismus auch nicht einfach tel quel «exportiert» werden. Ein Beispiel: In der Schweiz bestimmt die Zauberformel die Zusammensetzung der Regierung aufgrund der Parteistärken. Im internationalen Kontext dagegen setzt die Formel primär auf ethnisch/kulturelle Gruppen ab.
Der Tradition der Neutralität folgend
Für Tom Carothers, Vize-Forschungsleiter bei der Carnegie-Stiftung für Internationalen FriedenExterner Link, macht der Fokus auf Mediation Sinn. Dies angesichts der Tatsache, dass viele Länder heute mit einer starken politischen Polarisierung und Spaltung zu kämpfen haben. «Aufgrund ihrer langen Tradition der Neutralität hütet sich die Schweiz davor, mit ihrer internationalen Arbeit den Anschein zu erwecken, sie ergreife politisch Partei oder befürworte bestimmte politische Systeme.»
«Doch die Schweiz hat viel Erfahrung darin zu lernen, wie eine gespaltene Gesellschaft politisch zusammenarbeiten kann», so der Amerikaner, ein anerkannter Experte für internationale Demokratie-Förderung.
Wende nur mit verbindlicher Dynamik
Carothers appelliert an die teilnehmenden Länder, sich am Gipfel ernsthaft für die Zusammenarbeit in der Demokratieförderung zu verpflichten, statt nur schöne Reden zu schwingen. Der Schlüssel zu einer ehrlichen Bewertung der Fortschritte liegt für den Experten in der Schaffung einer «echten Dynamik für den Gipfelprozess».
Damit das Treffen nicht zum Palaver verkommt, setzt Washington den Ländern klare und verbindliche Bedingungen: Sie müssen sich zu Verbesserungen in den drei Themenbereichen Stärkung der Menschenrechte sowie Bekämpfung von Korruption und Autokratie verpflichten.
Die Messlatte ist klar gesetzt: Wer seine «Commitments» nicht erfüllt, ist beim Folgegipfel, der laut US-Administration in einem Jahr stattfinden soll, nicht mehr dabei.
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