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Afghanen und Afghaninnen: «Mehrheit erhält keinen Flüchtlingsstatus»

Afghaninnen und Afghanen auf der Flucht
Auf den Fluchtwegen sind viele Afghaninnen und Afghanen unterwegs, aber in der Schweiz werden die meisten von ihnen keinen Flüchtlingsstatus erhalten. Keystone / Sedat Suna

Die Flucht vor der Gewalt im eigenen Land reicht nicht aus, um in der Schweiz Flüchtlingsstatus zu erhalten. Der Begriff werde vom Bund "sehr restriktiv" ausgelegt, kritisiert der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen. Es liege im Interesse der Schweiz, ihre Praxis zu überdenken, sagt Anja Klug vom UNHCR.

Seit der Rückeroberung Kabuls durch die Taliban sind mehr Afghanen und Afghaninnen auf den verschiedenen Fluchtwegen unterwegs. In jüngster Zeit stellten die Schweizer Behörden einen Anstieg der Ankünfte über die Grenze zu Österreich fest.

Die Schweiz schützt Personen mit afghanischer Staatsangehörigkeit gut, falls sie nicht gemäss dem Dubliner Übereinkommen in ein anderes europäisches Land zurückgeschickt werden. Sie werden jedoch wahrscheinlich nicht den Flüchtlingsstatus und Asyl (Ausweis B) erhalten. Die Mehrheit von ihnen wird lediglich vorläufig aufgenommen werden.

Die Schweiz «gewährt einer Person nur dann Asyl, wenn sie beweisen kann, dass sie individuell verfolgt wird», erklärt Filippo Grandi, Leiter des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR).

Ein Beweis, der im Zusammenhang mit Bürgerkriegen «besonders schwierig» zu erbringen ist, «wo Gruppen von Menschen verfolgt werden, weil sie der gegnerischen Seite angehören oder dessen verdächtigt werden».

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Die strenge Auslegung der Flüchtlingskonvention von 1951 durch die Schweiz sei problematisch, beklagt das UNHCR in einem Bericht, der anlässlich des 70-jährigen Bestehens dieses Vertrags veröffentlicht wurde. Anja Klug, Leiterin des UNHCR-Büros für die Schweiz und Liechtenstein, ist der Ansicht, dass die Schweiz die vorläufige Aufnahme zugunsten eines neuen Schutzstatus aufgeben sollte.

swissinfo.ch: Ihre Studie zeigt, dass die Schweiz die Flüchtlingskonvention sehr restriktiv auslegt. Was bedeutet dies zum Beispiel konkret für die afghanischen Migranten und Migrantinnen, die in die Schweiz kommen und Schutz wünschen?

Anja Klug: Die Schutzquote von Afghaninnen und Afghanen in der Schweiz ist hoch. Sie war schon vor der Rückkehr der Taliban an die Macht hoch. Die Schweiz nimmt über 80% der Schutzgesuche von afghanischen Flüchtlingen an.

Die Mehrheit dieser Personen erhält jedoch keinen Flüchtlingsstatus, da sie keine gezielte Verfolgung belegen können. Die meisten Antragstellerinnen und Antragsteller mit afghanischer Staatsangehörigkeit werden in der Schweiz vorläufig aufgenommen, d.h. sie erhalten eine F-BewilligungExterner Link. Diese Auslegung der Konvention ist problematisch.

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Ist die vorläufige Aufnahme für sie nicht genauso sicher wie der Flüchtlingsstatus?

Der Ausweis F ist nicht wirklich ein Status. Er verhindert lediglich, dass die Person vorübergehend in ihr Herkunftsland zurückgeschickt werden kann. Ausserdem garantiert diese Art von Ausweis nicht die gleichen Rechte wie der Flüchtlingsstatus (Ausweis B in der Schweiz).

Vorläufig aufgenommene Personen berichten uns, wie schwierig es sei, eine Arbeit zu finden und sich zu integrieren. Auch bei der Familienzusammenführung stossen sie auf enorme Schwierigkeiten. Zudem haben sie praktisch kein Recht zu reisen, d.h. Verwandte in einem Nachbarland zu besuchen.

Wie sollte die Schweiz dieses Problem angehen?

Die Schweiz sollte die Flüchtlingskonvention korrekt anwenden. Wie viele andere Länder sollte sie Menschen, die vor bürgerkriegsspezifischer Verfolgung fliehen, als Flüchtlinge anerkennen und ihnen den Flüchtlingsstatus gewähren. Beispielsweise, wenn sich die Verfolgung gegen eine ganze Gruppe und nicht gegen eine bestimmte Person richtet, wie etwa bei einer Bombardierung.

Das UNHCR ist auch der Ansicht, dass die vorläufige Aufnahme dieser Personen durch einen neuen Schutzstatus ersetzt werden sollte, der ihnen die gleichen Rechte und den Zugang zu Leistungen wie Flüchtlingen garantiert. Ähnlich der Praxis, wie sie in der Europäischen Union (EU) angewendet wird.

Vor allem muss die europäische Solidarität gestärkt werden. Das bedeutet, dass das Dublin-System reformiert werden muss.

Anja Klug, Leiterin UNHCR-Büro Schweiz & Liechtenstein

Wäre es für die Schweiz nicht besser, diese Menschen als junge und produktive Arbeitskräfte zu betrachten?

Das ist richtig. Personen, die internationalen Schutz benötigen, werden in der Schweiz bleiben. Es liegt daher im Interesse des Aufnahmelands, sie zu integrieren. Je besser die Menschen integriert sind, desto weniger müssen sie finanziell unterstützt werden und desto mehr können sie zur Schweizer Gesellschaft beitragen.

Wenn man mit Flüchtlingen spricht, ist dies übrigens meistens ihr Wunsch. Sie wünschen sich, dass sie der Schweiz für die Aufnahme, die sie durch dieses Land erfahren haben, etwas zurückgeben können.

Seit dem Sommer nimmt die Zahl der afghanischen Flüchtlinge zu, die aus Österreich in die Schweiz kommen. Haben diese Personen eine Chance, Asyl zu erhalten?

Wenn diese Personen aus Österreich kommen, haben sie eine Chance auf Asyl, aber nicht in der Schweiz. Ihr Antrag wird abgelehnt, und sie werden nach Österreich zurückgeschickt. Denn das Dubliner Übereinkommen sieht vor, dass Asylanträge im ersten Land der Landung oder Ankunft geprüft werden.

Aus unserer Sicht ist dies nicht problematisch, da diese Flüchtlinge den Schutz Österreichs erhalten werden. Dieses Land verfügt über ein angemessenes Asylsystem.

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Die Schweiz ist auch als eines der Länder bekannt, die am häufigsten von Dublin-Rückführungen Gebrauch machen. Betreibt sie absichtlich eine Politik der Abschreckung für Asylsuchende?

Das Prinzip des Dublin-Systems, bei dem ein Staat als zuständig bestimmt wird und den Asylantrag einer Person prüfen muss, ist gut. Vor der Einführung dieses Systems wurden einige Flüchtlinge einfach von einem Land in ein anderes weitergeschickt.

Das System hat jedoch einige Schwachstellen. Die Kriterien, die bestimmen, welcher Staat für die Prüfung des Asylantrags zuständig ist, sind problematisch. Die Flüchtlinge werden ungleichmässig auf die europäischen Staaten verteilt.

Deshalb sehen sich einige Länder, deren geografische Lage die Ankunft begünstigt, mit Schwierigkeiten konfrontiert, die mit der Anzahl der zu bearbeitenden Fälle zusammenhängen. Hinzu kommt, dass wir zwar ein europäisches Asylsystem haben, die Aufnahmestandards jedoch sehr unterschiedlich sind.

Muss das System also reformiert werden?

Vor allem muss die europäische Solidarität gestärkt werden. Das bedeutet, dass das Dublin-System reformiert werden muss. Wir haben mehrere Vorschläge zu diesem Thema gemacht.

In der Zwischenzeit ist es wichtig, das Dublin-System mit Bedacht anzuwenden. Die Staaten müssen sich vor Rückführungen in Länder mit einem schwachen Asylsystem hüten, z.B. nach Griechenland oder Bulgarien. Besondere Aufmerksamkeit sollte auch schutzbedürftigen oder traumatisierten Personen gewidmet werden.

(Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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