«Jihadisten wollen lästigen Zeugen IKRK loswerden»
Das IKRK hat noch keine offizielle Erklärung für die Ermordung eines Schweizer Delegierten in Libyen am Mittwoch. Der Genfer Politologe Hasni Abidi geht von einem gezielten Angriff aus. Es gehe darum, ausländische Beobachter aus dem Land zu vertreiben, in dem ein immer schärferer Machtkampf tobe.
Nach dem Tod des IKRK-Delegierten Michael Greub hat die humanitäre Organisation ihre Aktivitäten in dem Land vorerst eingestellt. Gleichzeitig gab das IKRK aber bekannt, in Libyen bleiben zu wollen.
Am Mittwoch war der Leiter der Unterdelegation des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in der Stadt Sirte dort von Unbekannten gezielt aus nächster Nähe erschossen worden. Zwei Begleiter blieben unversehrt.
«Wir hatten keine Vorzeichen für dieses Attentat. Wir wissen nicht, ob das IKRK gezielt angegriffen worden ist, wir haben keine Drohung in diese Richtung erhalten, vor allem nicht in dieser Region Libyens», sagte IKRK-Sprecher David-Pierre Marquet. Es würden sämtliche Hypothesen geprüft. Die Organisation habe einen Krisenstab gebildet, und laut dem Sprecher ist eine Untersuchung mit den libyschen Behörden im Gang.
Hasni Abidi, Gründer und Direktor des in Genf angesiedelten Forschungszentrums über den arabischen und mediterranen Raum (CERNAM) hingegen schätzt, dass dieser Angriff gegen das IKRK in keiner Weise ein Zufall gewesen sei, wie er im folgenden Interview erklärt.
Der am Mittwoch in Sirte ermordete Schweizer Michael Greub hatte seit sieben Jahren für das IKRK gearbeitet. Bevor er nach Libyen kam, war er im Irak, im Sudan, in Jemen und in Gaza im Einsatz. Seit März dieses Jahres war er in der libyschen Stadt Sirte stationiert.
Das IKRK ist seit 2011 dauerhaft in Libyen präsent. Zurzeit stehen dort rund 30 internationale Mitarbeiter sowie 150 einheimische Angestellte für die humanitäre Organisation im Einsatz.
swissinfo.ch: Welchen Schluss ziehen Sie aus der Ermordung des Chefs des IKRK-Teams in Sirte?
Hasni Abidi: Es besteht ein Zusammenhang mit der Sicherheitslage in Libyen, die sich immer weiter verschlechtert. Doch die Ermordung des Chefs der IKRK-Unterdelegation ist keine Überraschung. Schon 2012 kam es in Bengasi und Misrata zu gezielten Angriffen gegen das IKRK, obschon Misrata als die sicherste Stadt in Libyen gilt.
Das zeigt, dass der Angriff gegen den IKRK-Vertreter gezielt erfolgte. Es war ein gut vorbereiteter Akt. Der Delegierte sollte ermordet werden. Egal, wie es um die Sicherheit in Sirte steht. Abgesehen davon hat sich nie jemand zu den Anschlägen gegen das IKRK 2012 bekannt.
Schweizer IKRK-Mitarbeiter in Libyen erschossen (Tagesschau SRF 4. Juni 2014)
swissinfo.ch: Bestätigt die Tatsache, dass die beiden anderen Mitarbeiter, die mit ihrem Chef unterwegs waren, nicht verletzt wurden, dass dieser Mord mit Absicht erfolgte?
A.B.: Absolut. Die Tatsache, dass nun ein Chef ermordet wurde, nachdem zuvor zweimal IKRK-Delegationen Ziel von Anschlägen waren, zeigt, dass das IKRK ins Visier genommen und getroffen wurde. Und dies trotz der von der Organisation ergriffenen Sicherheitsmassnahmen, darunter der Einsatz von Fahrzeugen, die nicht mit dem IKRK-Emblem markiert sind.
swissinfo.ch: Gibt dies Hinweise auf die Auftraggeber dieses Mordes?
A.B.: Das ist sehr schwierig zu sagen. Es ist ein sehr schmaler Grat, der akzeptable von nicht akzeptablen politischen Akteuren trennt. So gibt es gewisse Parlamentsmitglieder, die Verbindungen haben zu radikalen islamistischen Gruppen.
Abgesehen davon richten sich die Blicke auf Ansar al-Sharia. Man kann andere Gruppierungen jedoch nicht ausschliessen, wie ehemalige Angehörige des Gaddafi-Regimes und seiner Sicherheitsbrigaden, die sich – um ihre eigene Haut zu retten – den Revolutionären anschlossen. Auch diese versuchen, Chaos zu säen.
Es gibt eine Vielzahl von Playern, die dem IKRK gegenüber feindlich eingestellt sind. Sie könnten die Organisation angreifen, weil sie keine unabhängigen und neutralen Akteure im Land haben wollen. Man will einen wichtigen Akteur eliminieren, einen der wenigen, die überhaupt noch in Libyen sind.
Dieser Angriff zeigt, dass solche Gruppierungen das IKRK als lästig empfinden.
Vier Mitarbeiter der UNO in Libyen sind am Flughafen von Tripolis von Sicherheitskräften kurz festgenommen und «brutal behandelt» worden, wie die UNO am Donnerstag in einer Pressemeldung erklärte.
Die vier Personen seien unter dem Verdacht festgenommen worden, Waffen von Al-Baida (im Osten) nach Tripolis geschmuggelt zu haben. Die UNO präzisierte nicht, ob die vier Diplomatenstatus hatten.
Die vier UNO-Angestellten, alle ausländische Staatsangehörige, hatten eine Erlaubnis des libyschen Innenministeriums, Waffen zu tragen. Sie kamen aus Al-Baida zurück, wo sie einen bevorstehenden Besuch des Chefs der UNO-Mission in Libyen, Tarek Metri, vorbereitet hatten.
Ausländische Staatsangehörige, auch Diplomaten, sind seit dem Sturz des Gaddafi-Regimes 2011 Ziel von Entführungen, Anschlägen oder Morden.
Quelle: AFP
swissinfo.ch: Die Botschaft ist also, dass ausländische Zeugen das Land verlassen sollen?
A.B : In der Tat. Dieser Angriff zeigt aber vielleicht auch, dass es dem IKRK nicht gelungen ist, mit allen Konfliktparteien einen Dialog aufzunehmen oder zu festigen – eingeschlossen jene, die das IKRK nicht anerkennen –, um in einem sicheren Umfeld arbeiten zu können.
swissinfo.ch: Das Attentat geschah zu einem Zeitpunkt, in dem Libyen Schauplatz einer Offensive des abtrünnigen Generals Khalifa Haftar gegen die Jihadisten von Bengasi ist, sowie nach der umstrittenen Wahl von Abdallah al-Thinni zum Regierungschef im vergangenen März. Geht es um einen besonders angespannten Moment in der Geschichte Libyens in der Zeit nach Gaddafi?
A.B.: Diese drei Sequenzen zeigen die Komplexität des libyschen Schauplatzes und wie schwierig die Interpretation dessen geworden ist, was in diesem Land geschieht. Man darf zudem nicht vergessen, dass Ende dieses Monats Parlamentswahlen stattfinden sollen.
Das Attentat gegen General Haftar am gleichen Tag wie die Ermordung des IKRK-Delegierten kam von einer der vielen Jihadisten-Gruppen, zu der vor allem die Brigade 17. Februar in Bengasi oder Ansar al-Sharia gehören. Diese sagt offen, dass sie nach dem Kopf ihres erklärten Feindes trachtet.
Die Ermordung des Chefs der IKRK-Unterdelegation zeigt vielleicht jedoch auch, dass es noch andere Gruppen gibt, die sich durchsetzen wollen.
Das IKRK bezahlt die Zeche für die Multiplikation dieser Akteure und die beispiellose Verschlechterung der Sicherheitslage.
swissinfo.ch: Ist Ansar al-Sharia dabei, innerhalb der Jihadisten-Gruppen die Oberhand zu übernehmen?
A.B.: Ansar al-Sharia wurde 2011 in Tunesien gegründet, nach dem Sturz von Präsident Ben Ali. Am Anfang salafistisch, wandelte sich Ansar al-Sharia zu einer Jihadisten-Gruppe (Islamisierung durch Gewalt, Anwendung der Scharia; ein Teil der Mitglieder rückte der Al-Kaida näher).
Auf der Suche nach Finanzierung und einem mehr oder weniger frei zugänglichen Territorium richtete Ansar al-Sharia den Blick immer mehr auf Libyen, ein Land ohne Zoll, ohne solide Regierung, ein Land, das in dem Sinne Afghanistan ähnlich war. Seither wurden in Libyen zahlreiche Ausbildungscamps eingerichtet.
Der neu gegründeten Ansar al-Sharia gelang es – medienmässig – al-Kaida zu überholen. Kommunikation ist sehr wichtig, wenn es darum geht, Kandidaten für den Jihad zu rekrutieren. Die Bewegung erlebt zurzeit einen wahren Boom. Ihr Auftritt vor kurzem an einem Stand in Genf – falls sich dies bewahrheiten sollte – müsste den Behörden in der Schweiz und im Ausland Anlass zu Sorge geben.
swissinfo.ch: Sind die Projekte der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit in Libyen in Gefahr?
A.B.: Algerien, Ägypten und die USA – mit ihren lokalen, gut informierten Netzwerken – haben das Land verlassen oder ihre Präsenz vor Ort drastisch reduziert. Das ist ein wichtiges Signal. Ich glaube wirklich, dass die Sicherheitslage sich immer weiter verschlechtert. Die militärische Operation von General Haftar wird wahrscheinlich noch gewaltsamere Vergeltungsmassnahmen nach sich ziehen.
Es herrscht ein Paradox zwischen den dringenden Bedürfnissen der Bevölkerung, welche Projekte wie jene der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit mindestens teilweise decken können, und der Sicherheitslage, die diese Aktivitäten erschwert.
Es ist ein Land, von dessen Besuch man zum jetzigen Zeitpunkt unbedingt abraten muss. Sämtliche Dienste der Polizei sind infiltriert, das Gleiche gilt für die privaten Sicherheitsdienste. Die radikalen, islamistischen Gruppierungen entwickeln sich stets weiter. Man kann ihnen nicht trauen.
Die Sicherheit der westlichen Botschaften und ihrer Angestellten, die Sicherheit westlicher Unternehmen war nie so in Gefahr wie zurzeit.
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch