Lisa Mazzone und der starke Wunsch, die Welt zu verändern
In der etwas grauen und ernsten Atmosphäre des Parlaments fällt sie mit ihrem breiten und strahlenden Lachen und frischen Auftreten eindeutig aus dem Rahmen. Lisa Mazzone, die jüngste Parlamentarierin der Schweiz. Politisch gibt sich die grüne Nationalrätin aus Genf "überzeugt und entschlossen". Vor allem aber glaubt sie daran, "dass die Menschen etwas verändern können".
Das Interesse ist gross: Radio- und Zeitungsinterviews, Teilnahme an Fernsehsendungen, Zeitungsartikel. Seit ihrer Wahl am 18. Oktober in den Nationalrat hatte Lisa MazzoneExterner Link kaum eine freie Minute. Das erstaunt nicht. Während das Durchschnittsalter der Parlamentarier bei rund 50 Jahren liegt, ist Mazzone erst 27 Jahre alt. Damit ist sie die jüngste gewählte Frau im Parlament.
Neu im Parlament
Die Tochter von Christoph Blocher, ein kommunistischer Gemeindepräsident, der Chef der Weltwoche, eine junge Grüne: swissinfo.ch publiziert eine Auswahl von Porträts neuer Abgeordneter, die bei den Wahlen vom 18. Oktober 2015 ins Parlament gewählt wurden.
Entdecken Sie diese neuen Gesichter unter der Bundeshauskuppel, seien es Vertreterinnen oder Vertreter von Regierungsparteien oder kleiner Gruppierungen.
Wir treffen sie vor dem Bundeshaus, am Ende einer Sitzung während der Wintersession. «Die anderen Parlamentarier haben mich sehr gut aufgenommen, sie sind sympathisch, zumindest im Moment, und auch die Parlamentsdienste sind sehr hilfsbereit», sagt die Neugewählte.
Es ist Mittagszeit. Und wir schlagen ihr vor, in einem Restaurant etwas ausserhalb des Zentrums essen zu gehen. «Das ist gut. Da kann ich etwas Neues kennenlernen, denn meistens bleiben wir in der Nähe des Bundeshauses», sagt Mazzone.
Neugierde und Offenheit scheinen zwei Qualitäten der grünen Nationalrätin aus Genf zu sein. «Ja, ich bin neugierig und mag Herausforderungen. Und Offenheit ist ein Merkmal unserer Partei. Wenn es nicht so wäre, wäre ich wohl nie im März 2014, mit 26 Jahren, Präsidentin der Sektion Genf der Grünen geworden.»
Lisa Mazzone, Jahrgang 1988, hat italienische Wurzeln. Ihre Grosseltern mütterlicherseits waren beide als Physiker am Cern in Genf tätig. Auch die Grossmutter väterlicherseits arbeitete am Cern, als Sekretärin, während der Grossvater ein Ingenieur war. «Mein Vater montiert hingegen Solarpanels. Meine vor zwei Jahren verstorbene Mutter war Psychiaterin. Ich habe noch den italienischen Pass, und einige Verwandte leben in der Toskana.»
Lisa Mazzone
Am 25.Januar 1988 geboren. Sie begann ihre politische Laufbahn in der Genfer Gemeinde Versoix, wo sie 2006 ein Jugendparlament gründete.
Sie schloss ihr Universitätsstudium in Latein und Französisch ab. Von 2011 bis 2013 war sie Gemeinderätin für die Grünen in Grand-Saconnex. Dann wurde sie in den Kantonsrat gewählt.
Im Jahr 2014 übernahm sie die Präsidentschaft der Genfer Kantonalsektion der Grünen Partei der Schweiz. Sie arbeitet in Teilzeit für Pro Velo Genf, ein Verein zur Förderung des Velos als Verkehrsmittel.
Am 18.Oktober 2015 wurde sie in den Nationalrat gewählt.
An der Universität begann sie Italienisch und Französisch zu studieren. Doch schon bald sattelte sie auf Latein statt Italienisch um. «Viele sind überzeugt, Latein sei ein konservatives Fach. Doch meiner Meinung nach ist das Gegenteil richtig. Latein ist eine gute Möglichkeit, sich mit Menschheits- und Zivilisationsgeschichte auseinanderzusetzen. Die Entwicklung einer Sprache sagt viel darüber aus, wo wir herkommen und wohin die Reise geht. Das hilft, auch die heutige Welt zu verstehen.»
Ein anderes Gesellschaftsmodell
Für Lisa Mazzone war es ein ganz natürlicher Entscheid, für die Grünen zu politisieren. «Ich stamme aus einer sehr ökologisch orientierten Familie – mein Vater war schon Mitglied der Grünen. Wir fuhren immer Velo, reisten im Zug und hatten Solarpanels auf dem Dach. Ich stehe aber vor allem hinter den Grünen, weil sie ein anderes Gesellschaftsmodell verfolgen.»
Dieses Gesellschaftsmodell bedeutet für die junge Parlamentarierin aber nicht, Opfer bringen zu müssen. «Unsere Familie ist nie mit dem Flugzeug gereist. Ich hatte aber deshalb nie das Gefühl, auf etwas verzichten zu müssen. Wer über den Klimawandel und die Folgen für unser Handeln nachdenkt, kommt zum Schluss, dass unser Wertesystem in Fragen gestellt werden muss. Wir brauchen Werte wie Kollektivität, Zusammenhalt und müssen mehr teilen…»
Doch das «Grüne Denken» hat an Rückhalt in der Bevölkerung verloren, die Partei musste Wählerverluste hinnehmen. Bei den jüngsten Parlamentswahlen verlor die Partei fünf der 17 Sitze, die sie in der Legislatur 2011-2015 hatte. «Das stimmt: Unsere Ansichten haben im Moment keinen grossen Erfolg. In der Bevölkerung gibt es grosse Ängste, und dies stärkt konservative und liberale Kräfte. Ich habe den Eindruck, dass wenige Menschen glauben, dass sich die Welt verbessern lässt.»
Kommt ein Anstoss von der jungen Generation? Angesichts der Wahlresultate ist Mazzone nicht so sicher. «Die Jungen wählen immer häufiger SVP, die konservative Schweizerische Volkspartei. Das machte mich traurig, denn ich finde, man sollte vor allem Ideale verfolgen, wenn man jung ist, und Lust haben, die Gesellschaft zu verändern. Im Moment herrscht eine starke konservative Tendenz – in vielen gesellschaftlichen Bereichen. Und das macht mir Angst.»
Langfristiges Denken
Die Lust und Entschlusskraft, die Welt verändern zu wollen oder zumindest einige Dinge in der Schweiz, ist Mazzone hingegen anzumerken. Dies kam auch in ihrer Eröffnungsrede nur neuen Legislatur zum Ausdruck. Seit dem Jahr 2003 wird diese Rede jeweils vom jüngsten Parlamentsmitglied gehalten.
Eingangs zitierte sie Alcide de Gasperi: «Ein Politiker schaut bis zu den nächsten Wahlen. Ein Statistiker schaut bis zur nächsten Generation». Und ihre Rede schloss sie mit folgenden Worten: «Politik ist, Träume zu hegen und dann zu erfüllen.»
«Häufig sind die Ideale zu einseitig. Einerseits will man ökologisch sein, andererseits aber mit einem ökonomischen Modell weitermachen, das rücksichtlos mit unseren Ressourcen umgeht. Ich habe den Eindruck, dass das Bewusstsein noch lange nicht durchgedrungen ist, dass unser Planet unsere Art der Ökonomie nicht mehr sehr lange verkraften kann. Darum wollte ich betonen, dass wir langfristig denken und einige Begrifflichkeiten neu ordnen müssen: Umwelt und Wirtschaft, Bedürfnisse und Produktion, Ressourcen und Konsum», meint Mazzone.
Vielleicht hängt ihr langfristig orientierter Blick auch damit zusammen, dass die junge Politikerin im kosmopolitischen und offenen Genf aufgewachsen ist. «Die Welt ist eins. Was wir hier machen, hat Folgen an einem anderen Ort der Erde, genauso wie Dinge, die in weiter Entfernung passieren, uns betreffen.» Ihre Devise lautet: Global denken, lokal handeln.
«Überzeugt und entschlossen»
Im Genfer Kantonsrat hat sich Mazzone allerdings nicht nur Freunde gemacht. Eine freisinnig-liberale Politikerin warf der jungen Grünen vor einigen Monaten in der Tageszeitung Le Temps vor, zu radikale ökologische Positionen zu vertreten. Sie habe einen «bornierten Charakter», der es verunmögliche, Kompromisse zu finden. Andere bezeichneten sie als ökologische Fundamentalistin.
«Ökologie ist für mich keine Religion», antwortet Mazzone. Doch sie verheimlicht nicht, dass sie sich dem linken Flügel ihrer Partei zugehörig fühlt. «Es stimmt, ich bin überzeugt von einer Sache und sehr entschlossen. Aber meine Meinung basiert auf Tatsachen. Und ich bin durchaus zu Kompromissen bereit. Doch es muss immer auch eine Gegenleistung geben. Und das ist in Genf häufig nicht passiert», hält sie fest.
Diese Situation könnte auch in der kommenden Legislatur in Bern eintreten, denn der Nationalrat ist deutlich nach rechts gerutscht. Für die Grünen steht mit der Energiestrategie 2050 und dem schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie ein ganz wichtiges Thema auf der Traktandenliste. In Folge der neuen Zusammensetzung des Parlaments könnte das Paket jedoch wesentliche Änderungen erfahren, nachdem die Kantonskammer bereits die Idee der Einführung einer maximalen Laufzeit für bestehende Atomkraftwerke zurückgewiesen hat.
«Das werden vier schwierige Jahre werden. Wir müssen Kompromisse machen, und wir haben diese in Bezug auf die Energiewende bereits gemacht. Wir waren bereit, unsere Volksinitiative – die Atomausstiegs-Initiative – zurückzuziehen, aber das Parlament hat eine Kehrwende vollzogen. Daher werden wird diese Initiative vors Volk bringen und verteidigen. Ich bin überzeugt, dass wir Chancen haben, zu gewinnen. Die Bürgerinnen und Bürger waren wirklich davon überzeugt, dass der Ausstieg aus der Atomenergie eine beschlossene Sache sei.»
Ist Lisa Mazzone eine Optimistin? «Ich weiss es nicht, aber sicherlich bin ich keine Fatalistin. Ich bin überzeugt, dass wir Menschen die Dinge ändern können, vor allem in demokratischen Ländern. Ich glaube an diese Macht des Volkes.»
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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