Komplementärmedizin bleibt auf dem Prüfstand
Ab kommendem Jahr wird Komplementärmedizin für mehr Leute erschwinglich. Fünf alternative Therapieformen werden wieder in den Grundkatalog der Krankenversicherung aufgenommen, wenn auch nur für sechs Jahre. So lange bleibt ihnen auch Zeit, um die Wirksamkeit zu beweisen.
Konkret sieht Innenminister Didier Burkhalter vor, die fünf Methoden ab 1. Januar 2012 «provisorisch bis Ende 2017 unter bestimmten Voraussetzungen im Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung» zu vergüten.
Es handelt sich dabei um die anthroposophische Medizin, die Homöopathie, die Neuraltherapie, die Phytotherapie und die traditionelle chinesische Medizin.
Diese fünf Behandlungsmethoden waren 2005, ebenfalls nach einer sechsjährigen Testphase, aus der Liste der kassenpflichtigen Leistungen gestrichen worden.
Am 17. Mai 2009 hat das Stimmvolk jedoch den Gegenvorschlag zu einer Initiative angenommen, die verlangte, die Methoden wieder in den Katalog aufzunehmen.
Um nach der Testphase auch in diesem Katalog bleiben zu können, liegt nun der Ball bei der Komplementärmedizin. Bis jetzt sei noch nicht abschliessend bewiesen, «dass diese fünf Therapieformen wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sind», sagt EDI-Kommunikationschef Jean-Marc Crevoisier.
«Einige sind es mehr als andere. Das Ziel dieser fünf Jahre ist, die Türe zu schliessen für jene, die den Kriterien nicht oder nur teilweise genügen. Wie die traditionelle Medizin muss die Komplementärmedizin den Beweis von Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit erbringen.»
Bringschuld
Die fünf Fachgesellschaften müssen nun bis 2015 belegen, dass ihre Methoden den verlangten Kriterien entsprechen. «Wenn ich Bundesrat Burkhalter richtig verstehe, geht es nicht darum, die PEK-Übung (Bericht «Programm Evaluation Komplementärmedizin») zu wiederholen, als man zwischen 1999 und 2005 selber wissenschaftliche Studien gemacht hat», sagt Hansueli Albonico, Präsident der Union Schweizerischer Komplementärmedizinischer Ärzteorganisationen.
Vielmehr gehe es nun darum, die bisherigen Studien zu analysieren. «Wenn wir die Möglichkeit haben, die solide Substanz, die wissenschaftlichen Untersuchungen, die schon vorliegen – wir haben über 2000 gute klinische Studien – rüberzubringen, wenn diese eine adäquate Beurteilung erfahren und wir vielleicht noch diese und jene Lücke stopfen können, dann sind wir zuversichtlich», gibt sich der Arzt überzeugt.
Einig ist man sich unter Ärzten, dass es bei unter drei Kriterien eine klare Rangfolge gibt: Zuerst die Wirksamkeit, dann Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit. «Fehlt das erste, sind die beiden anderen hinfällig», sagt Ignazio Cassis, Vizepräsident der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) und Nationalrat der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP.Die Liberalen).
Internationale Verknüpfung
Neben verschiedenen anderen Vorgaben plant das Innendepartement, die Wirksamkeit der fünf Methoden von einer international anerkannten Institution überprüfen zu lassen.
«Wir werden mit einem internationalen Institut zusammenarbeiten, das in der gleichen Zeit eigene Tests durchführen wird», betont EDI-Sprecher Crevoisier.
Dieses soll bis Ende 2015 ein unabhängiges Gutachten erstellen, aus dem die zuständige Kommission 2016 dem EDI eine Empfehlung unterbreiten soll.
Ein Schritt, der bei Komplementär- wie auch Schulärzten auf breite Zustimmung stösst: «Der Entscheid von Didier Burkhalter ist sehr weise und pragmatisch, weil die Überprüfung der Wirksamkeit weder von der Regierung, noch vom Parlament, noch von einer rein schweizerischen Studie durchgeführt werden soll, sondern von der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft», sagt Cassis.
Eine solche Expertise könnte laut dem FMH-Vizepräsidenten beispielsweise von Instituten wie dem National Institute of Health der USA oder dem National Institute of Clinical Excellence in Grossbritannien durchgeführt werden, die sich mit Komplementärmedizin auskennen würden, «unabhängig davon, wo sie angewendet wird».
Laut Crevoisier könnte dies auch das National Center for Complementary and Alternative Medicine sein, die offizielle Behörde der USA für Forschung in diesen Bereichen.
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Von anderen Ländern lernen?
«Ich begrüsse diese Ausweitung auf die internationale Szene sehr», sagt auch Albonico. «Ich sehe das als grosse Chance.» Die Schweiz, die bis 2005 in Sachen Komplementärmedizin von Europa und den USA genau beobachtet worden sei, könne heute viel von anderen Ländern lernen.
So etwa von Deutschland: «Dort gibt es in der Ärzteschaft seit 10 Jahren ein Dialogforum, das sich mit dem Pluralismus in der Medizin befasst, also damit, dass verschiedene Methoden zur Anwendung kommen müssen – immer unter der Voraussetzung des Nachweises von Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit.»
Auch in den USA sei die Diskussion um alternative Heilmethoden bereits weit fortgeschritten, sagt Albonico. «Dort haben wir auch Vorbilder in der Implementierung, im Unterricht an den Universitäten und bei adäquaten Krediten für die Forschung.»
Auch für Cassis ist klar, dass eine Ausdehnung der Tests von Vorteil sein kann: «Die Idee Burkhalters ist, die Entwicklung der medizinischen Wissenschaft auf internationaler Ebene zu nutzen, um in fünf Jahren dank mehr Informationen entscheiden zu können.»
Laut dem Erfahrungsmedizinischen Register (EMR), das Therapeuten prüft und auf eine Liste setzt, die von rund 40 Krankenversicherern anerkannt wird, sind in der Schweiz gegenwärtig gut 17’200 Alternativ- und Komplementär-Therapierende registriert.
In den vergangenen elf Jahren hat sich ihre Anzahl von damals knapp 5000 mehr als verdreifacht, wie Zahlen des EMR zeigen.
Dazu kommen noch zahlreiche nicht registrierte Therapierende sowie «klassische» Ärzte, die alternative Behandlungen anbieten.
EMR-Geschäftsleiterin Silva Keberle schätzt, dass in der Schweiz somit zwischen 30’000 und 40’000 Personen komplementärmedizinische Therapieformen anbieten.
Laut Keberle hat die Schweiz damit weltweit die höchste Dichte an alternativen Therapierenden. Dies sei besonders darauf zurückzuführen, dass die Zusatzversicherungen der Krankenkassen entsprechende Modelle anbieten.
Homöopathie: Diese Methode beruht auf der Regel, Krankheiten mit Arzneien zu behandeln, die ähnliche Symptome wie die Krankheit selbst auslösen können. Dazu werden häufig so genannte «Globuli» hergestellt, die den Wirkstoff nur noch stark verdünnt aufweisen (Potenzierung).
Anthroposophische Medizin: Diese Methode stammt aus der Schule der Anthroposophen, die den Menschen als Einheit von Körper, Lebenskraft, Seele und Geist betrachten. Es wird auf eine «ganzheitliche» Behandlung geachtet, die mit natürlichen Substanzen aber auch schulmedizinischen Medikamenten erreicht werden soll.
Neuraltherapie: Diese Behandlung versucht mit Injektionen von lokalen Anästhetika zu erreichen, das vegetative Nervensystem zu beeinflussen. Durch diese Reize sollen die «Störfelder» behandelt werden, die die Beschwerden verursachen.
Phytotherapie: Die klassische Pflanzenheilkunde ist in vielen Kulturen seit Jahrhunderten überliefert. Sie setzt auf die Heilkräfte aus der Natur und verzichtet auf chemische Zusätze.
Traditionelle chinesische Medizin: Diese Methode aus China ist seit 3000 Jahren immer weiter entwickelt worden. Auch sie betrachtet den Menschen ganzheitlich und setzt zur Heilung fünf Methoden ein: Akupunktur, chinesische Pflanzenheilkunde, Massage, Bewegungs- und Ernährungslehre.
(In Zusammenarbeit mit Jessica Dacey und Andrea Clementi)
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