Kriegsmüde Tschetschenen «bereit in Angst zu leben»
Die tschetschenische Menschenrechtlerin Zainap Gaschaeva lebt heute als Flüchtling in der Schweiz. Am Wochenende ist sie in Bern für ihren Mut mit dem Somazzi-Preis 2011 ausgezeichnet worden.
Die Auszeichnung wird von der Dr. Ida-Somazzi-Stiftung seit 1976 für «herausragende Leistungen in der Frauenförderung» vergeben.
Im Interview mit swissinfo.ch erklärt Gaschaeva, die derzeitige Regierung Tschetscheniens wolle, dass die beiden zerstörerischen Kriege von 1994-1996 und 1999-2009 in Vergessenheit gerieten.
Verschiedene ihrer Mitkämpferinnen, die sich gegen den Krieg einsetzten, darunter die prominente russische Journalistin Anna Politkowskaja, wurden ermordet.
Auch Gaschaeva war im Verlauf der Jahre immer wieder mit dem Tod bedroht worden und hatte Tschetschenien schliesslich verlassen. Im Januar 2011 wurde sie in der Schweiz als Flüchtling aufgenommen.
swissinfo.ch: Was ist Ihr Hintergrund, wie begann ihr Engagement für die Menschenrechte?
Zainap Gaschaeva: Meine Eltern waren 1944 aus Tschetschenien nach Kasachstan deportiert worden, wo ich geboren wurde. Als ich 13 Jahre alt war, kehrten wir nach Tschetschenien zurück. Mein Interesse für die Menschenrechte wurzelt wahrscheinlich in meiner Kindheit.
Meine Eltern sprachen nicht darüber, was passiert war, sie behielten es immer für sich. Aber eines Tages, als ich noch klein war, hörte ich zufällig, wie sie darüber sprachen, was damals 1944 in unserem Heimatdorf Khaibach geschehen war, als der NKVD [der sowjetische Geheimdienst] mehr als 700 Menschen in einen Stall trieb und diesen in Brand steckte.
Meine Eltern hatten Angst, und so wurde nie darüber gesprochen, was damals passiert war. Ich wurde nicht dazu erzogen, Russen zu hassen und hatte auch russische Freunde.
swissinfo.ch: Was geschah, als 1994 der erste Tschetschenien-Krieg ausbrach?
Z.G.: Als die tschetschenische Kampagne begann, lebte ich in Moskau. Zuerst holte ich meine Eltern und dann ging ich hin, um selber zu sehen, was dort geschah. Ich lebte zwischen Moskau und Tschetschenien. Ich sah die Wirklichkeit in Tschetschenien und jene in Moskau: Die Menschen dort wussten nichts, wollten nichts wissen.
swissinfo.ch: Ist eines der Probleme, dass Russen auf kleinere Nationen der Russischen Föderation hinabschauen?
Z.G.: Ich liebe die Russen, ihre Musik, ihre Kultur. Aber in der Russischen Föderation gibt es mehr als 100 nationale Gruppen, man kann nicht so tun, als ob es nur ein einziges Volk gäbe.
Auch die Russen und Russinnen sind Sklaven des Systems, in dem sie jetzt leben. Auch sie haben kaum Rechte. Und die kleineren Volksgruppen haben gar keine Rechte.
Die Korruption floriert heute mehr als zu Sowjetzeiten. Korruption auf Bundesebene und auf lokaler Ebene. Das Ziel aller Beamten ist es, Geld aus ihrem Job herauszuschlagen. Und schon um einen Posten überhaupt zu erhalten, muss man zahlen. Es ist ein Teufelskreis, der nur schwer zu durchbrechen ist.
swissinfo.ch: Ihr Kampf ist also nicht nur für Tschetschenien?
G.Z.: In erster Linie setze ich mich für Frieden ein. Für ein Ende der Gewalt. Wir hatten zehn Jahre Krieg in der tschetschenischen Republik. Diese Jahre brachten so viel Leid mit sich, für Frauen und Kinder, für die Verwundeten. Und nicht nur in Tschetschenien. Denken Sie, dass eine russische Mutter glücklich darüber ist, dass ihr Sohn in Tschetschenien gestorben ist? Dass sie glücklich darüber ist, dass ihr Sohn dort kämpfte und dann verbittert nach Hause zurück kam und sich nicht mehr in die Gesellschaft eingliedern kann, die ihn enttäuscht hat?
Heute werden in Tschetschenien wieder Häuser gebaut, Sport und Kultur werden entwickelt. Das ist gut. Aber wie können wir in diesen Häusern leben, wenn es keine Stabilität gibt, wenn wir in Angst leben und kein Wort darüber sagen können, was passiert?
Die Menschen wollen den Krieg vergessen, sie wollen nicht darüber sprechen, nicht darüber nachdenken. Sie sind bereit, in Angst vor den Behörden der Republik zu leben, solange einfach kein Krieg mehr herrscht.
swissinfo.ch: Das ist wie die Erfahrungen, die ihre Eltern machten?
Z.G.: Genau. Nach so viel Leid ziehen sich die Leute auf sich selber zurück. Sie haben Angst, sogar zu Hause. Innerhalb von Familien gibt es unterschiedliche Ansichten. Man hat Angst vor den Nachbarn, denn diese könnten einen bei den Behörden melden.
Es ist nach jedem Krieg dasselbe: Wir bauen wieder auf, wir wollen, dass alles wieder hergestellt wird. Aber die Seele der Menschen, die bleibt verletzt. Die Schmerzen bleiben zurück.
Sie haben nicht Blumen auf uns herunter fallen lassen. Sie haben Bomben geworfen, auch verbotene Bomben. Doch bis heute können die Menschen nicht darüber sprechen, was passiert ist, denn die Politik der jetzigen tschetschenischen Regierung ist, dass dies ein Krieg sein soll, der keine Spuren hinterlassen hat.
swissinfo.ch: Und der Rest der Welt hat Tschetschenien heute vergessen oder kümmert sich schlicht nicht darum?
Z.G.: Ja, so ist es. Es gibt neue Kriege, neue Desaster. Alles gerät in Vergessenheit.
Ich arbeite jetzt in Bern am Tschetschenischen Archiv. Ich bin überzeugt, dass ich dieses Archiv eines Tages meinem Volk übergeben werden kann. Sonst hätte alles gar keinen Sinn. Ich will, dass sie die riesige Arbeit einer kleinen Gruppe von Frauen zu Gesicht bekommen, die ihr eigenes Leben riskierten, all die Städte und Dörfer in Tschetschenien besuchten, um die Geschichten über die Kriegsgreuel zusammenzutragen.
Bis heute hat niemand die Menschen um Verzeihung gebeten, niemand hat eingestanden, dass es falsch gewesen war. Ich denke, es braucht ein internationales Gerichtsurteil über diesen Krieg.
swissinfo.ch: Ein umstrittener tschetschenischer Geschäftsmann hat jüngst den Fussballclub Neuchâtel Xamax gekauft. Ist die verhaltene Reaktion in der Schweiz darauf ein Zeichen, dass trotz all der Worte über Menschenrechte letzten Endes Geld die Welt regiert?
Z.G.: Während des Kriegs hatte ich Gelegenheit, viele internationale Organisationen zu besuchen. Ob bei den Vereinten Nationen, beim Europarat oder in Parlamenten – immer wieder appellierte ich an die internationale Gemeinschaft, nicht die Augen zu verschliessen, vor dem, was in Tschetschenien passierte. Und stiess oft auf politische Gleichgültigkeit. Man verwarf die Hände über dem Kopf und sagte: ‹Ja, aber was können wir tun? Wir brauchen das Gas, wir haben wirtschaftliche Beziehungen, und so weiter.›
Sogar als es Massenmorde und Massenbombardierungen gab – Grosny zum Beispiel wurde dem Erdboden gleich gemacht -, Folter, Konzentrationslager und so viele Menschen auf der Flucht, blieb die Welt still.
Doch wo immer ich ganz normale Menschen getroffen habe, bin ich auf Unterstützung und Verständnis gestossen.
swissinfo.ch: Was bedeutet Ihnen der Preis der Somazzi-Stiftung?
Z.G.: Es ist eine grossartige Anerkennung unserer bescheidenen Bemühungen. Die Auszeichnung bedeutet Hoffnung und Unterstützung für mich und meine Kolleginnen und Mitaktivisten, sowie auch für all jene, die trotz Misstrauen und Feindschaft der Behörden weiter für die Respektierung der Menschenrechte im Nordkaukasus kämpfen.
Zainap Gaschaeva kam 1953 in Tekeli in Kasachstan zur Welt, nachdem ihre Eltern 1944 aus Tschetschenien deportiert worden waren.
Sie machte eine Ausbildung als Ökonomin in Moskau. Vor 17 Jahren nahm sie ihren Kampf für die Menschenrechte auf.
Im Verlauf der Tschetschenien-Kriege bemühte sie sich vor allem darum, die Kriegsgreuel zu dokumentieren und diese Informationen ausser Landes zu bringen. Eine Aufgabe, mit der sie und andere Frauen immer wieder ihr Leben riskierten.
Gaschaeva arbeitete mit russischen und westeuropäischen Medienschaffenden und Aktivisten zusammen. Zu diesen gehörten die russische Journalistin Anna Politkowskaja, die 2066 ermordet wurde, sowie die russische Menschenrechtlerin Natalia Estemirowa und die Kinderrechts-Aktivistin Sarema Saidullaeva, die beide 2009 ermordet wurden.
1997 half Gaschaeva bei der Gründung der Menschenrechts-Organisation Ekho Voyno (Echo des Krieges), sie ist eine der Ko-Präsidentinnen. Die andere ist die Russin Anna Iwanowna Pisetskaja, die ihren Sohn im Tschetschenien-Krieg verlor.
Die Organisation hilft bei der Suche nach vermissten Personen und kümmert sich um verletzte Veteranen und Waisen.
Nachdem die Kämpfe in Tschetschenien abgeflaut waren, engagierte sich Gaschaeva vor allem in der Friedensförderung und befasste sich mit weiteren humanitären Aufgaben in Tschetschenien und dem Rest der Russischen Föderation.
Ein von ihr in Tschetschenien eröffnetes Waisenhaus für 30 Kinder, das von Caritas Frankreich unterstützt wurde, musste nach drei Jahren den Betrieb einstellen – als Teil einer Regierungspolitik, die jegliche Spuren des Krieges tilgen will.
Nachdem sie über Jahre hinweg immer wieder bedroht worden war, flüchtete Gaschaeva aus dem Land und wurde im Januar 2011 in der Schweiz als Flüchtling aufgenommen.
Heute arbeitet Gaschaeva bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Bern an einem Archiv aus dem Material, das sie und ihre Kolleginnen aus Russland herausschmuggeln konnten.
Die Tschetschenische Republik liegt im Nord-Kaukasus und ist rechtlich ein Teil der Russischen Föderation.
Im Zweiten Weltkrieg hatte Stalin die Tschetschenen beschuldigt, sie stünden auf Seite der Deutschen. 1944 wurde auf Stalins Befehl das gesamte tschetschenische Volk nach Kasachstan und nach Sibirien deportiert.
Erst unter Nikita Chruschtschow, der die Entstalinisierung einleitete, durften die Tschetschenen ab 1956 in den Kaukasus zurückkehren.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 wurde auch in Tschetschenien der Ruf nach Unabhängigkeit laut.
Als Russland versuchte, die Kontrolle über die Region zu behalten, kam es 1994 bis 1996 zum ersten Tschetschenien-Krieg.
Der zweite Tschetschenien-Krieg brach 1999 aus, als islamische Kräfte in die Nachbarrepublik Dagestan eindrangen. Dies setzte schliesslich der de-facto-Unabhängigkeit Tschetscheniens erneut ein Ende.
Separatisten kämpften weiter gegen russische Truppen, die von tschetschenischen paramilitärischen Gruppen unterstützt wurden. 2009 wurden die Kämpfe als beendet erklärt.
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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