Mathias Reynard, der «kleine Rote» im Parlament
Mit 24 Jahren ist Mathias Reynard der jüngste Parlamentarier in Bern. Der Lehrer und Vollblutwalliser kämpft für eine radikale Umwälzung der Gesellschaft. Obwohl er am linken Rand der SP politisiert, liegt ihm viel an Debatte und Konsenssuche.
Von der Terrasse des Cafés muss man nur den Blick heben, um die imposante grüne Kuppel des Schweizer Parlamentsgebäudes zu sehen. «Jedes Mal, wenn ich hierher komme, bin ich emotional ein bisschen berührt, auch wenn ich schon seit einem halben Jahr in Bern Sitzungen habe», sagt Mathias Reynard gegenüber swissinfo.ch.
Am 23. Oktober 2011 wurde er überraschend zusammen mit seinem politischen Mentor Stéphane Rossini auf der Liste der Sozialdemokratischen Partei (SP) des Kantons Wallis in den Nationalrat, die grosse Parlamentskammer, gewählt.
Als jüngstes der 246 Mitglieder des neuen Parlamentes hatte er die Ehre, die Eröffnungsrede in der Wintersession zu halten. «Meistens hört man sich im Plenum nicht allzu aufmerksam zu. Ich aber hatte das Glück, vor einer sehr konzentriert zuhörenden Versammlung zu sprechen», sagt er und lacht.
In seiner zweiten Session im März dieses Jahres wurde er zum Sprecher seiner Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK) zur Frage der Studiengebühren für Medizinstudenten ernannt.
«Der Zugang zur Universität für alle und die Verteidigung der Arbeiter sind meine beiden Hauptanliegen», sagt Reynard. Seine ersten parlamentarischen Interventionen machte er denn auch zu diesen Dossiers.
Er setzte sich aber auch stark für die Buchpreisbindung oder die Verteidigung der sprachlichen Minderheiten in den Parlamentskommissionen ein.
Redefreiheit
Der seit seinem 15. Lebensjahr in der Gewerkschaft Unia engagierte Mathias Reynard gehört klar dem linken Flügel seiner Partei an. «Ich will zu den Arbeitern und Arbeitnehmern sprechen. Die SP soll nicht den oberen Mittelstand vertreten und einige soziale und wirtschaftliche Verbesserungen anpreisen.» Der junge Nationalrat ist sich bewusst, «dass nicht alle sozialdemokratischen Abgeordneten in Bern seine Vision teilen».
Sein Engagement gegen die Initiative zur Einschränkung des Baus von Zweitwohnungen des Umweltschützers Franz Weber hat Reynard auch Feindschaften im eigenen Lager eingebracht.
«Es gab ziemliche Spannungen, aber meine Haltung, unterstützt von den Walliser Gewerkschaften, wurde schlussendlich respektiert», unterstreicht er. «Ich konnte nicht Stellung gegen jene Leute beziehen, die mich gewählt haben. Es gibt im Bausektor viele kleine Handwerker, die für die Exzesse der Vergangenheit nicht verantwortlich sind und die Folgen dieser Abstimmung spüren werden. Meine Eltern gehören auch dazu.»
Auch wenn Mathias Reynard seine Meinung unabhängig von den Parolen seiner Partei oder von Interessengruppen, deren Omnipräsenz er in Bern bereits entdecken konnte – «insbesondere die Lobby der Krankenkassen» – äussern möchte, ist er dennoch offen für Diskussionen und Ideenaustausch.
«Ich fühle mich sehr wohl in der Kommission, die Suche nach einem Konsens ist mir nicht zuwider. Meine einzige Schwierigkeit ist, dass ich die deutsche Sprache noch nicht genügend beherrsche.»
Regionaler Sozialismus
Obwohl sich der jüngste Nationalrat für eine Verankerung in der Realität stark macht, musste er die Grenzen des Milizparlamentes, das er verteidigt, anerkennen. Reynard arbeitet zu 70% als Lehrer und besucht parallel dazu Kurse an der Pädagogischen Hochschule des Kantons Wallis (HEP).
«Meine verschiedenen Engagements sind enorm zeitraubend. In der Praxis, wenn man von den zahlreichen Mandaten in Verwaltungsräten und Vereinen absieht, arbeiten sehr wenige Parlamentarier wirklich.»
Neben seinen beruflichen und politischen Verpflichtungen gibt es eine ganze Palette von sozialen und Vereinsaktivitäten, auf die er nie im Leben verzichten möchte.
Auf seiner Homepage offenbart sich Mathias Reynard als Fan des FC Sion, als Hockeyspieler des HC Nendaz, als Trompeter bei der Guggenmusik von Savièse oder auch als Grenadier beim Umzug des Fête-Dieu von Granois. «Ich bin sehr stark mit dem Wallis und seinen Traditionen verbunden. Ich liebe es, an Volksfesten teilzunehmen, aber nie im Sektor der VIP.»
Als glühender Verteidiger des Dialektes (Patois) von Savièse gesteht Reynard gerne seine konservative Seite, wenn es um die Verteidigung seiner Heimatregion geht. «Nur wenn man seine Wurzeln und seine Kultur kennt, kann man sich gegenüber anderen öffnen. Man darf das Terrain der Identität nicht der Schweizerischen Volkspartei (SVP) überlassen.»
Sprechen wir über die SVP: Es war einer seiner Schulfreunde, ein Mitglied der rechtskonservativen Partei, der ihn dazu brachte, in die Politik einzusteigen. «Er hat mir bewusst gemacht, dass meine Werte weit entfernt von den seinen sind.»
Begegnung mit Evo Morales
Wenn die Medien Mathias Reynard mit SVP-Nationalrat Oskar Freysinger vergleichen, der aus dem gleichen Dorf Savièse stammt und ebenfalls den Lehrerberuf ausübt und Mitglied der gleichen Parlamentskommission ist, reagiert er gekränkt.
«Ich bekämpfe seine Ideen vehement. Es ist wahr, dass wir manchmal zusammen im Zug nach Bern fahren. Unsere Beziehungen sind gut, solange wir nicht über Politik sprechen.»
Auch wenn der junge SP-Nationalrat manchmal formell Wasser in sein Weinglas giesst, indem er einen Anzug anzieht – «aber ohne Krawatte und ohne mein Piercing zu entfernen!» – , schwört er, er werde immer seinen Geist der Revolte bewahren. Ein Revolutionär also, der «kleine Rote» aus Savièse, wie ihn seine alten Kameraden in der Gemeinde liebevoll nennen?
«Ja, denn ich stelle unser System grundsätzlich in Frage. «Die Ausbeutung hat heute ein anderes Gesicht als früher, aber die Herrschaftsverhältnisse haben sich nicht verändert, sei es zwischen dem Norden und dem Süden, aber auch in unserem Land selbst.»
Wenn man Reynard nach seinen politischen Vorbilder fragt, zögert er keine Sekunde: «Evo Morales (Präsident Boliviens, Anm.d.Red.). Ich hatte das Glück, ihn 2006 anlässlich einer Lateinamerika-Reise zu treffen. Und sonst Charles Delberg, Gründer der SP Wallis.» Wenn er Franzose wäre, hätte er ohne Zweifel Jean-Luc Mélenchon, Leader der Linksfront, gewählt, auch wenn er das Programm des gewählten Präsidenten François Hollande akzeptieren kann.
«Hollandes sehr starke Verankerung in der Sozialistischen Partei Frankreichs war einer der Schlüssel zu seinem Erfolg», sagt Reynard. «So erkläre ich mir teils auch meine überraschende Wahl ins Schweizer Parlament. Ich kenne tatsächlich praktisch sämtliche Militanten der Walliser SP.»
Seinen nächsten grossen Kampf wird Mathias Reynard auf nationaler und kantonaler Ebene führen: Es geht um zwei Initiativen zur Einführung eines Mindestlohnes. «Ich bin mir bewusst, dass ein Sieg schwierig sein wird. Aber es ist wichtig, unsere Stimme heute hören zu lassen, um später zu gewinnen.»
Immer noch «überrascht», sich in Bern zu finden, versichert der junge Walliser Nationalrat, keine Karrierepläne zu haben. «Freundschaften, die Familie und mein Lehrerberuf sind wichtiger als alles andere. Ich weigere mich, für die Politik alles zu opfern.»
Geboren am 7. September 1989 in Sion, Kanton Wallis, ist Mathias Reynard der jüngste Parlamentarier unter der Bundeshauskuppel.
Er kommt aus einfachen Familienverhältnissen und beginnt sein politisches Engagement bei den Walliser Jungsozialisten und im Jugendparlament seines Kantons.
2009 wird er in den Walliser Grossrat (Parlament) gewählt.
Seine Interventionen konzentrieren sich auf die Verteidigung von Poststellen und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmer.
Ferner setzt er sich ein für die wirtschaftliche Enzwicklung des Kantons, jugendliche Arbeitslose, die Umwelt, Stipendien für Studierende und ebenso für die Erhaltung des regionalen Dialekts (Patois).
Während zwei Jahren ist er Redaktionsmitarbeiter bei seiner ParteizeitungPeuple valaisan.
Am 23. Oktober 2011 wird er überraschend in den Nationalrat (grosse Parlamentskammer der Schweiz) gewählt.
In seiner Gemeinde Savièse erhält er 2176 Stimmen, 500 Stimmen mehr als ein anderer, viel bekannterer Politiker: Oskar Freysinger von der SVP.
In Bundesbern ist Mathias Reynard Mitglied der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK) und der Parlamentarischen Gruppe Kinder und Jugend.
Er hat einen Master-Titel in Geisteswissenschaften der Universität Lausanne. Er ist Lehrer an der Mittelschule von Savièse.
(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud)
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