Mindestlohn ist noch nicht vom Tisch
Das Schweizer Stimmvolk hat die Einführung eines landesweiten Mindestlohns klar gebodigt. Trotzdem ist das Thema nicht begraben. Die beiden Kantone Neuenburg und Jura wollen einen Mindestlohn auf kantonaler Ebene einführen. Das Vorhaben birgt aber Schwierigkeiten und Ungewissheiten, weil der Föderalismus in diesem Bereich wenig Spielraum lässt.
Vor zwei Wochen haben die Schweizer Stimmbürger sehr deutlich Nein gesagt zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes auf Landesebene. Doch das Thema Mindestlohn taucht im Kanton Neuenburg erneut auf.
In der Session vom 27./28. Mai sollte der Grosse Rat ein entsprechendes Kantonalgesetz absegnen. Das Gesetz konkretisiert den Verfassungsartikel zum Mindestlohn, der im Rahmen einer kantonalen Volksabstimmung im November 2011 gutgeheissen worden war.
Der Mindestlohn beträgt demnach 20 Franken pro Stunde. Dies sind zwei Franken weniger als in der eidgenössischen Volksinitiative gefordert, die am 18. Mai bachab geschickt wurde. Es entspricht einem Monatslohn von rund 3640 Franken bei einer Wochenarbeitszeit von 42 Stunden. Das Gesetz soll auf 1. Januar 2015 in Kraft treten.
Im Kanton Jura lancierten die Jungsozialisten gemeinsam mit den Progressiven eine Volksinitiative unter dem Namen «Ein Jura der fairen Löhne.» Diese Volksinitiative verlangt Mindestlöhne auch für Unternehmen, die keinem GAV unterstellt sind. Die Löhne sollen je nach Branche unterschiedlich sein und nach den nationalen Medianlöhnen berechnet werden.
Die Mindestlöhne werden nicht für Branchen angewandt, die über einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV)verfügen, der bereits einen Mindestlohn beinhaltet. Ausgenommen sind auch Unternehmen, die einen GAV mit einem Mindestlohn unterschrieben haben.
Nur einige Monate später wird sich das Parlament im Nachbarkanton Jura über den Mindestlohn beugen. Dort hatte das Volk im März 2013 eine Initiative angenommen, die einen Mindestlohn für alle Unternehmen und Branchen vorsieht, die über keinen Gesamtarbeitsvertrag verfügen.
Der Mindestlohn ist nicht einheitlich für den ganzen Kanton, sondern wird nach einem Prozentsatz im Vergleich zum landesweiten Medianlohn in den jeweiligen Branchen errechnet. Das Parlament legt den Satz jeweils fest.
Der jurassische Regierung werde «demnächst» den entsprechenden Gesetzesentwurf ans Parlament überweisen, erklärt Regierungssprecher Pierre-Alain Berret gegenüber swissinfo.ch. Ein genaues Datum kann er aber nicht nennen. Die Umsetzung muss eigentlich innerhalb von zwei Jahren nach der Volksabstimmung erfolgen, das heisst innert März 2015. Berret versichert, dass alles getan werde, um diesen Termin einzuhalten.
Soziale oder wirtschaftliche Begründung
«Die Arbeiten am Gesetz brauchen Zeit, da es sich um sehr komplexe Fragen handelt. Denn es muss das richtige Mass gefunden werden. Das heisst, dass der Anstieg der Tieflöhne so proportioniert sein muss, dass sich die Unternehmungen das erlauben können, ohne Entlassungen durchführen zu müssen oder auf die Anstellung junger Arbeitskräfte zu verzichten. Sonst haben genau jene Personen, für die bessere Löhne gewünscht sind, am Ende keinen Job mehr», hält der Informationschef aus dem Jura fest.
Doch die delikate Feinarbeit hört an diesem Punkt nicht auf. Denn das Arbeitsrecht untersteht prinzipiell den Bund und nicht den Kantonen, wie Anwalt Philippe Bauer festhält. Er ist Präsident des Parlaments des Kantons Neuenburg. Das heisst: Eigentlich haben die Kantone keine Möglichkeit, Mindestlöhne festzulegen.
Das Bundesgericht hat laut dem Juristen aber 2010 einen Ausweg aufgezeigt, indem es festhielt, dass die Kantone Mindestlöhne dann erlassen können, wenn dies im Rahmen der Sozialpolitik, nicht der Wirtschaftspolitik, geschieht. Das höchste Schweizer Gericht betonte, dass ein Mindestlohn nach ähnlichen Massstäben berechnet werden muss wie bei den Sozialversicherungen oder der Sozialhilfe.
Der Medianlohn entspricht der Lohnmitte – die Hälfte der Arbeitnehmenden verdient mehr, die andere weniger als dieser Wert.
Im Jahr 2010 betrug in der Schweiz der Medianlohn über alle Branchen hinweg 5979 Franken. Im Kanton Neuenburg lag er bei 5785 Franken, das heisst er lag 2,4% tiefer.
Der Medianlohn bei Frauen betrug 5221 Franken, bei Männern 6379. Im Kanton Neuenburg waren es 4861 beziehungsweise 6118 Franken.
Für den Kanton Jura sind keine Zahlen erhältlich. Eine Lohnstrukturerhebung soll dieses Jahr durchgeführt werden. Mit der Publikation der Resultate ist 2016 zu rechnen.
Relativer Weltrekord
«Das ist der springende Punkt im Kanton Neuenburg: Sind wir mit einem Mindestlohn von rund 3600 Franken noch auf einer sozialen Stufe oder schon im Bereich einer wirtschaftlichen Massnahme?» fragt Bauer.
«Ich selbst weiss es nicht. Aber wenn es sich um einen nach ökonomischen Kriterien festgelegten Mindestlohn handeln würde, könnte das Prinzip der Wirtschaftsfreiheit gefährdet sein. Und im Fall eines Rekurses vor Bundesgericht hätte das Gesetz keinen Bestand», sagt der freisinnige Parlamentarier.
Politische Beobachter gehen davon aus, dass das Projekt die Parlamentshürde schaffen und auch nicht durch ein Referendum bekämpft wird. Gleichwohl gibt es keine absolute Sicherheit, dass Neuenburg am 1. Januar 2015 der erste Kanton der Schweiz mit einem Mindestlohn sein wird – übrigens mit dem weltweit höchsten Mindestlohn. Und dies nur wenige Monate, nachdem das Schweizer Stimmvolk den «weltrekordhohen Mindestlohn» auf nationaler Ebene abgelehnt hat.
Dieser Weltrekord ist allerdings zu relativieren. Denn auch die Lebenshaltungskosten sind in der Schweiz rekordverdächtig hoch. Im Kanton Neuenburg veranschlagen die Sozialversicherungen das Existenzminimum, um Miete, Krankenversicherung und Lebensunterhalt zu bestreiten, auf 3099 Franken im Monat. Rechnet man dies auf einen Mindestlohn für eine erwerbstätige Person um, würde dies 3480 Franken im Monat bedeuten.
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Leben am Existenzminimum
Jurassier Modell macht Schule bei Grünen
Auch im Jura wird es eine Gratwanderung sein, um einerseits die rechtlichen Vorgaben zu erfüllen, das heisst, sich an den Ansätzen der Sozialhilfe zu orientieren, und andererseits der Forderung der Volksinitiative nach «fairen Löhnen für alle» nachzukommen.
Trotz der Umsetzungsschwierigkeiten hat die kantonale Volksinitiative der Jungsozialisten und progressiven Jurassier – mit Mindestlöhnen gemäss Berufsbranchen und in Anlehnung an die landesweiten Medianlöhne – in ökologischen Kreisen grosses Interesse geweckt. So haben beispielsweise die Grünen im Kanton Tessin eine ähnliche Volksinitiative lanciert. Die notwendigen Unterschriften wurden gesammelt. Die Volksabstimmung dürfte 2015 stattfinden.
Der grüne Nationalrat Christian van Singer aus dem Kanton Waadt hat zudem eine Motion eingereicht, welche die Möglichkeit zur Festlegung würdiger kantonaler Mindestlöhne vorsieht. Die kantonalen Exekutiv- und Legislativbehörden sollen demnach «die Möglichkeit erhalten, unter Einhaltung des Bundesrechts kantonale Mindestlöhne festzulegen, die ein würdiges Leben erlauben».
Dabei beruft er sich auf das «Jurassier Modell»: «Diese Mindestlöhne könnten sich je nach Branche und nach Beruf in allen Unternehmen und Wirtschaftszweigen des Kantons unterscheiden, müssten aber einem bestimmten Prozentsatz des nationalen Medianlohns entsprechen.»
Obwohl der Bundesrat die Motion ablehnt, hat van Singer die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass wenigstens das Parlament seinem Vorstoss zustimmt: «In der Abstimmungskampagne für den 18. Mai haben die Gegner argumentiert, dass Mindestlöhne nach Regionen und Branchen festgelegt werden müssten. Genau das könnten die Kantone machen, wenn die Motion angenommen werden würde.»
Klares Nein der Arbeitgeber
Das sehen die Arbeitgeber anders. Die Kritik an der Volksinitiative für faire Löhne, wonach staatlich festgelegte Mindestlöhne, wenn schon, nach Regionen und Branchen differenziert sein müssten, «war nur eines von vielen Argumenten», sagte Daniella Lützelschwab, Vorstandsmitglied des Schweizer Arbeitgeberverbandes.
Die Arbeitgeber sind prinzipiell gegen Mindestlöhne, die vom Staat festgelegt werden. «Und auch in der Volksabstimmung vom 18. Mai hat das Volk klargemacht, dass es dies nicht will», fügt Lützelschwab an.
Auch der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) scheint sich vom Jurassier Modell nicht gross inspirieren zu lassen. Um gegen Tieflöhne zu kämpfen, setzt der SGB nach der Abfuhr seiner Volksinitiative nun den Akzent ganz auf die Lohndiskriminierung der Frauen.
Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass zwei Drittel der mehr als 330’000 Tieflohnempfänger Frauen sind. Zudem verdienen Frauen häufig auch in gleichen Anstellungen weniger als ihre männlichen Kollegen.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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