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Mit Fahnenmeer zum Stimmenmehr oder die Macht der orangen Flagge

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Eine von rund 80'000: Die Flaggen für die Konzernverantwortungs-Initiative prägen das Bild von Schweizer Städten. Sie sind aber auch auf dem Land anzutreffen. Keystone / Samuel Schalch

Die Befürworter der Konzernverantwortungs-Initiative bekennen seit Monaten Flagge. Ist der orange Fahnentrend in den Städten bloss ein Farbtupfer in der politischen Landschaft oder kündigt er eine Veränderung des Wahlkampfs in der Schweiz an?

Die Schweiz sieht orange. In zahlreichen Städten und Gemeinden hängen seit Monaten orangefarbene Flaggen an Balkongeländern und Fassaden.

An Fahrradrahmen sind dreieckige, orange Wimpel befestigt, und viele Menschen tragen Rucksäcke mit orangem Aufkleber. Sogar auf dem Land prangen an Bauernhäusern und Scheunen Transparente. Sie alle machen auf die Konzernverantwortungs-Initiative aufmerksam und fordern dazu auf, ein Ja in die Wahlurne zu legen.

Die Initiative, über welche die Schweizerinnen und Schweizer am 29. November abstimmen werden, will Unternehmen mit Sitz in der Schweiz für Rechtsverletzungen in ihren globalen Lieferketten haftbar machen.

Die orangefarbenen Flaggen sind das visuelle Herzstück der Kampagne. Sie haben die Volksinitiative zu einer der sichtbarsten der letzten Jahre gemacht. Bundesrat und Parlament sind zwar gegen die Vorlage, doch die Umfragen zeigen, dass das Volk das anders sehen könnte.

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Die Abstimmungskampagne mit der auffälligen Flagge läuft auch in der Westschweiz. Keystone / Jean-christophe Bott

Inwiefern wäre ein Sieg an der Wahlurne mit dem Fahnenmeer zu erklären? Ein direkter Zusammenhang ist schwer zu messen. Rahel Ruch vom Organisationskomitee sagt, dass bis Anfang November rund 80’000 Flaggen in alle Landesteile verschickt worden seien, sowohl in die Städte wie auch aufs Land. Es ist eine kostengünstige Methode, um viele Menschen zu erreichen: Herstellung und Versand kosten nur zehn Franken pro Stück.

Kein Meinungsmacher

Ihre Wirkung ist aber nicht klar. Kritiker konstatieren nüchtern, dass die meisten Fahnen in Stadtquartieren aufgehängt werden, in denen die Unterstützung für die Initiative sowieso gross ist. Das territoriale Fahnenschwenken geschehe seltsamerweise in Gegenden, in denen es nichts zu gewinnen gäbe, schrieb kürzlich ein Autor des Tages-AnzeigersExterner Link. In einer Art Echokammer würden solche Banner wohl nur die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder einen bestimmten Ort markieren, aber nicht wirklich die Meinung anderer ändern, so das Argument.

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Auch Kirchgemeinden zeigen Flagge, wie hier die Pauluskirche in Bern. Keystone / Peter Schneider

Auch Mark Balsiger, Spezialist für politische Kampagnen, glaubt, dass mehr Flaggen nicht unbedingt mehr Stimmen bedeuten. Er sieht sie eher als farbenfrohen «Reminder» denn als ein Mittel der Überzeugungsarbeit.

Die lange Dauer der Sichtbarkeit – es sind nun bereits zwei bis drei Jahre – bedeute aber, dass die Initiative inzwischen fest im Bewusstsein der Bevölkerung verankert sei. Dies könne dazu beitragen, die Anhänger zur Stimmabgabe in den kommenden Tagen zu mobilisieren. Angesichts des harten Wahlkampfes «ist die Wahlbeteiligung ganz entscheidend», sagt Balsiger.

Martin Künzi von der Kommunikationsfirma Enigma betont ebenfalls, dass blosse Sichtbarkeit nicht ausreiche und mehr nötig sei, um Menschen an die Urnen zu bewegen. Zugleich räumt er ein, dass die Aktivisten mit ihrer Kampagne eine fantastische Arbeit geleistet hätten. Und das sowohl bei der Schaffung von Bewusstsein als auch beim Aufbau einer Gemeinschaft von Unterstützern und Fans.

Diese Gemeinschaft werde nun intensiv von den Organisatoren angegangen, um ihnen «den letzten Anstoss zur Stimmabgabe zu geben», so Künzi. Er ist überzeugt, dass die Initiative angenommen wird.

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«Sie muss optisch überzeugen»

Ungeachtet des Wahlausgangs: Die Fahnen sind zu einem neuen Instrument von politischen Kampagnen geworden. Unterstützer werden zu Aktivisten und bilden eine sichtbare Gemeinschaft, die geeint hinter einer Forderung steht. Mit diesen neuartigen Kampagnen strebe man danach, «ein Wählerpotenzial, das sachlich vorentschieden ist, mit individualisierten Medien anzustecken, so dass die Wähler emotional bestärkt ihre Stimme abgeben», schrieb Polit-Analyst Claude Longchamp 2018 in einem Beitrag für swissinfo.ch.

Laut Longchamp begann der Flaggentrend vor einigen Jahren mit den Jungsozialisten. Sie griffen zu Transparenten, weil ihnen das Budget für traditionelle Kampagnen fehlte. Heute breitet sich der Trend weiter aus, und wer in Bern oder Zürich durch die Quartiere spaziert, sieht zum Beispiel auch Werbebanner der Gletscher-Initiative, welche die Treibhausgasemissionen der Schweiz bis 2050 auf null senken will. Zuvor waren auf ähnliche Weise die Vorlage für einen bezahlten Vaterschaftsurlaub und die Initiative für sauberes Trinkwasser beworben worden.

«Fahnen geben uns Sichtbarkeit, für die wir nicht bezahlen müssen», erklärt Sophie Fürst, Kampagnenleiterin der Gletscher-Initiative. Auf ihrer Website werden verschiedene Werbeartikel angeboten, etwa T-Shirts, Ansteckknöpfe, Aufkleber und natürlich die Fahne: Blaue und orange-gelbe Streifen umrahmen eine silberne Alpensilhouette (siehe unten). «Wir wollten eine positiv gefärbte Fahne, die man gerne aufhängt und betrachtet», sagt Fürst. Bisher hätten sie rund 18’000 Exemplare verschickt.

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Flagge der Gletscher-Initiative. Keystone / Jean-christophe Bott

Neues Konfliktfeld

Sind Fahnen die Zukunft der politischen Werbung? Wohl nicht. Die Vorstellung, dass künftig alle Kampagnen auf dieses Werbemittel setzen, ist absurd. Jedes Jahr werden in der Schweiz Dutzende von Initiativen lanciert. Würden alle auf den Trend aufspringen, wären bald ganze Quartiere von Fahnen durchzogen.

Marketingspezialist Martin Künzi erklärt, dass die Strategie nicht überall Erfolg habe. «Sie funktioniert nur bei Themen, welche die Menschen stolz machen und ihnen ein gutes Gefühl geben.» Es sei also nicht zu erwarten, dass begeisterte Befürworter einer Steuerreform plötzlich damit anfangen werden, Fahnen zu verteilen.

Stellt sich abschliessend die Frage, ob die wehenden Werbeträger nicht zu Streit und Spannung in der Nachbarschaft führen können. Bisher verlief die Debatte zur Konzernverantwortungs-Initiative gesittet, auch wenn die Befürworter kritisiert wurden, sie hätten auf ihren Wahlplakaten verfälschte und sehr emotionale Bilder verwendet. Studien haben gezeigt, dass Flaggen und Symbole Menschen zusammenzubringen, aber zugleich auch zu Spannungen zwischen Gruppen führen können.

Zumindest in Bern, in einem Wohnhaus an der Länggasse, das dem Autor dieses Artikels bekannt ist, begannen im Frühjahr dieses Jahres regelrechte Flaggenkriege. Zuerst wurde von einem Balkon ein bemaltes Tuch aufgehängt, auf dem gefordert wurde, benachteiligte Menschen bei der Bewältigung der Covid-19-Pandemie stärker zu unterstützen.

Im Sommer dann, als die öffentliche Aufmerksamkeit den bevorstehenden Abstimmungen galt, machte ein Mieter seinen Widerstand gegen die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge kund; ein Nachbar im Erdgeschoss reagierte prompt mit einer patriotischen Schweizer Flagge. Am Ende führte das alles zu einem altmodischen Verwaltungseingriff: ein Brief des Vermieters, der die Bewohner darüber informierte, dass künftig keine Fahnen mehr die Fassade zieren dürfen. Inzwischen ist der Austausch politischer Ansichten wieder ins Innere des Gebäudes zurückgekehrt.

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