Nach der Wahl hat Merkel die Qual der Wahl
"Gigantisch", "historisch", "triumphal": Die Schweizer Presse kommentiert die Wahlen in Deutschland mit Superlativen. Kanzlerin Angela Merkel und ihre Union sind ganz oben, aber allein an der Spitze, ohne die bisherige Mehrheitsbeschafferin FDP und auf der Suche nach einem Koalitionspartner.
Angela Merkel wurde mit einem überwältigenden Resultat zum dritten Mal als Bundekanzlerin gewählt, ihre Union erzielte ein Rekord-Ergebnis, knapp unterhalb der absoluten Mehrheit: «Die CDU ist wieder da, wo sie zu Konrad Adenauers Zeiten war: Die Staatspartei, die im Bund alles bestimmt und die wichtigsten Posten quasi allein besetzt. Die restlichen Parteien dürfen zugucken», kommentiert Deutschland-Korrespondent Casper Selg auf der Online-Plattform von Schweizer Radio und Fernsehen.
Doch: Mit dem Ausscheiden des bisherigen Bündnispartners FDP stehen Merkel und ihre Union nun allein an der Spitze. Die Suche nach einem Koalitionspartner hat begonnen. Ganz einfach wird das nicht sein: «Mit alledem hat Angela Merkel offensichtlich nicht gerechnet. Noch selten hat eine grosse Siegerin in ihrem Triumph so baff gewirkt wie sie am Sonntagabend», so Selg.
Die Union hat die Bundestagswahl deutlich gewonnen, die absolute Mehrheit aber verfehlt. Nach dem am Montag veröffentlichten vorläufigen Endergebnis fehlen Bundeskanzlerin Angela Merkel gleich mehrere Sitze, um alleine regieren zu können.
Ihr bisheriger Koalitionspartner FDP scheiterte wie schon eine Woche zuvor in Bayern an der Fünf-Prozent-Hürde und ist erstmals nicht mehr im Bundestag vertreten.
Die SPD unter Kanzlerkandidat Peer Steinbrück konnte sich leicht verbessern, ihr Wunsch-Koalitionspartner Grüne büsste aber Stimmen ein.
Drittstärkste Kraft wurde trotz Verlusten die Linkspartei. Die euro-skeptische AfD scheiterte bei ihrem ersten Anlauf zum Bundestag mit 4,7 Prozent nur knapp.
CDU und CSU konnten sich demnach auf 41,5 Prozent verbessern, nachdem sie 2009 mit 33,8 Prozent das zweitschlechteste Ergebnis bei einer Bundestagswahl eingefahren hatten.
Die FDP stürzte auf 4,8 Prozent von 14,6 Prozent vor vier Jahren ab. Die SPD erholte sich von ihrem Tiefpunkt vor vier Jahren leicht auf 25,7 Prozent von 23,0 Prozent. Die Grünen sackten auf 8,4 Prozent nach 10,7 Prozent ab. Die Linkspartei verlor ebenfalls mit 8,6 Prozent nach 11,9 Prozent.
FDP fliegt raus
Deutschland sei «in den vergangenen Jahren der Eurokrise konservativer geworden», bilanziert der Zürcher Tages-Anzeiger und bezeichnet den Sieg Merkels als «einsam».
Die mächtigste Frau der Welt steigt mit ihrer dritten Wahl in Folge auf die politische Hochebene von Konrad Adenauer und Helmut Kohl und hat sich gleichzeitig das Problem der Koalitionsbildung eingehandelt. Die liberale FDP ist nach 64 Jahren aus dem Bundestag raus geflogen. Nun muss sich Merkel mit einem politischen Gegner arrangieren, real kommen die Sozialdemokarten oder die Grünen infrage.
«Ein Zusammengehen mit den Grünen ist dabei wenig wahrscheinlich. Zu weit nach links hat sich die Ökopartei in diesem Wahlkampf bewegt. Zudem würde Merkel mit der grünen Partei eine klare Wahlverliererin in die Regierung holen», schreibt der Tages-Anzeiger.
Hoher Preis für den Sieg
Anders sehe es bei der SPD aus: «Trotz des zweitschlechtesten Ergebnisses in ihrer Geschichte haben die Sozialdemokraten leicht zugelegt. Zudem würde eine Grosse Koalition gemäss Umfragen dem Wunschbündnis einer Mehrheit der Deutschen entsprechen.»
Doch um die SPD «in die Regierung zu locken» müsste «Merkel wohl einen hohen politischen Preis bezahlen. Der einsame Sieg der Angela Merkel hat die Kanzlerin deshalb nicht gestärkt», so der Tages-Anzeiger.
«Ein Triumph der leisen Töne», titelt die Neue Zürcher Zeitung und stellt fest: «Merkel hat sich in der deutschen Politik eine Ausnahmestellung erarbeitet, die selbst ihr politischer Ziehvater Helmuth Kohl nie erreichte.» Kohl sei in seiner langen Amtszeit stets angefeindet worden: «Merkel hingegen sorgt mit ihrer Art der leisen Töne und vielen kleinen Kompromisse dafür, dass niemand ihre Dominanz als bedrohlich empfindet.»
Protest gegen den Euro-Konsens
Am Ende herrsche bei den Wählern der Eindruck, «hier regiere eine Frau mit gesundem Menschenverstand und Augenmass». Mehr wolle die Kanzlerin nicht, «und in dieser Selbstbescheidung liegt ihre grosse Stärke», schreibt die NZZ.
Dieser Regierungsstil habe eine Koalition mit der SPD vorweggenommen und die Entstehung einer Protestpartei begünstigt: «Zu einheitlich waren in der Europapolitik die im Bundestag vertretenen Positionen, um nicht den Wunsch nach einem Gegenentwurf aufkommen zu lassen, wie ihn die Alternative für Deutschland (AfD) vertritt.»
Dass die AfD – eine bürgerliche, eurokritische Protestpartei, der auch CDU-nahe Persönlichkeiten angehören – bereits bei ihrem ersten Antreten ein Resultat knapp unter der 5-Prozent-Hürde erreicht hat, sei eine «kleine Sensation». Doch die Zeche bezahle die FDR, schreibt die NZZ: «Ein guter Teil ihrer Wähler ist zur AfD abgewandert. Bei den Liberalen gab es eine grosse Gruppe von Parlamentariern und Mitgliedern, welche den von der Regierung eingeschlagenen Kurs der Euro-Rettung grundsätzlich missbilligte.»
Kein Zuckerschlecken
Aus einem «angeblich langweiligen Wahlkampf» sei «einer der spannendsten Wahlabende seit langem» geworden, schreibt die Nordwestschweiz, denn das seien «Umwälzungen, die Deutschland seit dem ersten Einzug der Grünen in den Bundestag im Jahr 1983 nicht mehr erlebt hat».
Für Angela Merkel bedeute ihr Spitzenergebnis allerdings «Licht und Schatten». Licht, weil es «der Kanzlerin gelungen ist, ihre grosse Popularität, die über die Parteigrenzen hinausreicht, in Stimmen für ihre Partei umzumünzen. Schatten, weil die Union ihren Juniorpartner FDP verloren hat.»
Nun seien «klassische Bündnisse –bürgerliche Parteien auf der einen, Linke auf der andern Seite», nicht mehr möglich. Als Partner kämen nun die Grünen oder die SPD in Frage. Doch die Grünen hätten eine Niederlage zu verkraften und ein Bündnis würde zu internen Querelen führen. Bleibe die SPD, für die «Koalitions-Verhandlungen mit einer so sehr erstarkten Union kein Zuckerschlecken werden», schreibt die Nordwestschweiz, den «schon in der Grossen Koalition 2005 bis 2009 fühlten sich die Sozialdemokraten von der Union an den Rand gedrängt. Das dürfte jetzt nicht besser werden».
Sauerstoff für Griechenland
Die Fragen, auf welche Merkel eine Antwort haben müsse, seien «zahlreich», schreiben die Westschweizer Tageszeitungen 24Heures und Tribune de Genève: «Wird sie sich in ihrer Politik der Strenge bestätigt fühlen und so das Risiko eingehen, Malaise zwischen Berlin und den Völkern des Südens zu verstärken. Oder wird sie sich kulant zeigen?»
Auch die Freiburger La Liberté erinnert an die Probleme der südlichen Euroländer und fragt, ob sich die «mächtigste Frau der Welt» bewusst sei, dass ihr Name eng mit dem Überleben der Euro-Zone verknüpft sei. «Ein Überleben, dass immer noch hypothetisch ist, wenn man bedenkt, dass Griechenland noch einmal einen grossen Ballon an Sauerstoff braucht, um die dem Land drohende Erstickung zu verhindern.»
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