Nahendes AKW-Aus lädt Schweizer Atomdebatte neu auf
Die Bernischen Kraftwerke haben von der Schweizer Atomaufsicht mehr Zeit erhalten, um zu zeigen, wie Mühleberg bis zum Abschalten 2019 sicher betrieben werden kann. Derweil planen die Atomkraft-Gegner bereits den Angriff auf Beznau, das älteste AKW der Schweiz und der Welt.
«Ja, aber…»: Das ist die Botschaft, welche die Schweizer Atomaufsicht ENSI am Donnerstag der Bernischen Kraftwerke AG (BKW) zum angestrebten längeren Betrieb des AKW Mühleberg übermittelt hat.
Das Nuklearsicherheits-Inspektorat ENSI hält somit an den zusätzlichen Sicherheitsmassnahmen fest, die es 2012 infolge der Katastrophe von Fukushima der BKW für einen Langzeitbetrieb Mühlebergs auferlegt hatte. Würden diese nicht bis 2017 umgesetzt, müsse Mühleberg dann vom Netz.
Nun aber hat das ENSI vier der insgesamt 18 Langzeitforderungen «aufgeweicht», so Direktor Hans Wanner am Donnerstag. Es sind dies ausgerechnet die vier Punkte, die für Mühleberg-Gegner zentral sind: Neue Stabilisierung der Risse im Kernmantel, Bau eines unabhängigen, erdbebenfesten Notkühlsystems, Errichtung eines erdbebenfesten und überflutungssicheren Brennelementbecken-Kühlsystems sowie eines zusätzlichen Systems zur Nachwärmeabfuhr.
Konkret hat nun die BKW bis nächsten Sommer Zeit, für diese kostenintensiven Forderungen alternative, billigere Lösungen zu präsentieren, damit sie das Atomkraftwerk wie angestrebt zwei Jahre über den vom ENSI festgesetzten Abschalttermin hinaus, also bis 2019, betreiben kann.
Festhalten an den 18 Sicherheitsmassnahmen, Spielraum für billigere Alternativen bei der Umsetzung: Die Kontroverse, ob das ENSI der BKW als Mühleberg-Betreiberin nun Druck aufsetzt oder ihr entgegenkommt, lässt sich auch an den Schlagzeilen der Schweizer Presse vom Freitag ablesen.
«Auflagen für AKW Mühleberg», tönt es von der Basler Zeitung, «Auflagen für Mühleberg gelockert» dagegen vom St. Galler Tagblatt.
«Ensi fordert – und gibt nach», schreibt Der Bund. «Streng, aber nicht zu streng», so La Liberté aus Freiburg.
«Mühleberg sorgt wieder für neuen Zündstoff», titelt die Neue Luzerner Zeitung; «Atomaufsicht gibt nach» DerLandbote aus Winterthur, seien doch Abstriche bei der Sicherheit möglich.
«Heikle Gratwanderung bei Mühleberg», lautet die Schlagzeile des Tages-Anzeigers, während für die Zürichsee-Zeitung klar ist: «Atomaufsicht gibt bei Mühleberg nach».
«Atomaufsicht erlaubt Kompromisse», meldet die Berner Zeitung. Die Politik müsse die Gummiformel eliminieren, fordert sie in einem Kommentar. Gemeint ist die Schwachstelle, dass das ENSI gegenüber der BKW kaum in der Lage sei, die gesetzlich verankerte höhere Sicherheitsmarge rechtlich durchzusetzen. «Das Ensi sollte wenn nötig der BKW auf der Nase herumtanzen können», fordert die BZ.
Die Neue Zürcher Zeitung sieht «Komplexe Abwägungen um letzte Jahre des AKW Mühleberg».
«Die Verhandlungen über die Sicherheit von Mühleberg erzürnen die Grünen», schreibt 24 heures, während Le Temps aus Genf titelt: «Die Aufsicht des Bundes verlangt von Mühleberg den Beweis, dass das AKW bis 2019 sicher bleibt.»
Der Knackpunkt dabei: Die BKW muss die Erfüllung der vom ENSI angemahnten Sicherheitsmassnahmen mit dem Aspekt der Betriebswirtschaftlichkeit für die beschränkte Dauer von lediglich zwei Jahren unter einen Hut bringen. Denn schliesslich hat die Betreiberin die Abschaltung Mühlebergs 2019 wirtschaftlich begründet.
Die Kosten für die 18 zusätzlichen Sicherheitsmassnahmen für den Langzeitbetrieb bis Mitte der 2020er-Jahre veranschlagt das ENSI auf rund 400 Mio. Franken. Zusätzlich zu den 30 Mio. Franken, welche die BKW jährlich in das AKW investiert, will sie für das Paket der ENSI-Massnahmen nur 15 Mio. Franken ausgeben.
«100-prozentige Sicherheit gewährleistet»
Ein «korrekter Entscheid» des ENSI, lobt This Jenny von der Schweizerischen Volkspartei (SVP), der als Glarner Ständerat der parlamentarischen Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie (Urek) angehört.
«Das ENSI muss für Mühleberg bis 2019 100-prozentige Sicherheit gewährleisten, und das ist mit dem Festhalten an den Massnahmen der Fall», so Jenny gegenüber swissinfo.ch. Auch die Betreiber hätten ihr ureigenes Interesse daran, die Sicherheit zu gewährleisten.
Den Vorwurf der Atomgegner, die BKW und das ENSI würden einen «Deal» über die Sicherheitsmassnahmen abschliessen, bezeichnet Jenny als «politisches Schattenboxen», für welches das Thema zu ernst sei.
Gegner uneins
Auf Seiten der Atomenergie-Gegner löste der ENSI-Entscheid scharfen Protest aus. Die Jungen Grünen etwa zeigten sich «entsetzt über den Kuhhandel, den das ENSI mit der BKW trieb». Und Greenpeace-Atomexperte Florian Kasser sprach davon, dass Nachrüstung so zu einer reinen Alibiübung verkomme. Zudem wertet er den Entscheid als schlechtes Zeichen für die Unabhängigkeit des ENSI.
Dieser Meinung sind aber nicht alle Atomkraft-Gegner. «Das ENSI weicht nicht gross von den geforderten Sicherheitsmassnahmen für den Langzeitbetrieb ab. Insofern ist die Behörde korrekt vorgegangen und hat sich gut positioniert», sagt der sozialdemokratische Waadtländer Nationalrat Roger Nordmann, wie Jenny Mitglied der Urek des Parlaments.
Das ENSI hätte dann ein Glaubwürdigkeitsproblem, wenn es einen Restbetrieb zum Spartarif bewilligen würde. Dies sieht auch er nicht für gegeben.
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«Keine Alternativen»
Nordmann hat auch kein Problem damit, dass die Betreiberin BKW bis im Sommer 2014 Zeit erhält, um Alternativen zu den vier zentralen Sicherheitsmassnahmen für den Langzeitbetrieb vorzulegen. Denn solche sieht er weit und breit keine in Sicht. «Ich sehe keine Alternativen zu einem solideren Kernmantel und zum Bau eines separaten Notkühlsystems», sagt er.
Deshalb hält Nordmann die Abschaltung des AKW Mühleberg Ende 2017 für das wahrscheinlichste Szenario. «Wirtschaftlich macht es keinen Sinn, für den Restbetrieb von zwei Jahren 150 Mio. Franken zu investieren.»
Wichtiger als den ENSI-Entscheid wertet der Waadtländer Atomkraft-Gegner die Ankündigung der BKW vor wenigen Wochen, Mühleberg 2019 vom Netz zu nehmen.
«Der Entscheid der BKW, das Atomkraftwerk Mühleberg innert vernünftiger Zeit abzuschalten, ist bahnbrechend und mutig», sagt Nordmann. Er widerlege die Theorie der Atomlobby, dass sich der Abschalttermin nicht zum Voraus festlegen lasse. «Zudem kommt die Begründung der BKW, dass das AKW nicht mehr rentiere, wenn man nachrüsten müsse, einer Bankrotterklärung dieser Technologie gleich.»
Atomkraftwerke in der Schweiz müssen über ihre ganze Lebensdauer mehr als nur die minimalen Sicherheitsanforderungen erfüllen.
Das Eidgenössische Nuklearsicherheits-Inspektorat ENSI besteht darauf, dass die Betreiber dafür sorgen, dass ihre Anlagen bis zum letzten Betriebstag über zusätzliche Sicherheitsmargen verfügen.
Konkret fordert die Behörde, dass die Sicherheitsmarge eines Atomkraftwerks stets mindestens dem Stand der Nachrüsttechnik entsprechen muss. Das bedeutet, dass die Betreiber regemässig in Nachrüstungen investieren müssen.
Sinkt die Sicherheitsmarge eines Werkes unter den Stand der Nachrüsttechnik, muss es abgeschaltet werden.
Laut Schweizer Gesetz können die Betreiber ihre Anlagen solange weiter betreiben, wie die gesetzlichen Sicherheitsanforderungen erfüllt sind.
Die Kompetenz, ein AKW abzuschalten, hat in der Schweiz das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek).
Die Abschaltkriterien sind in der Ausserbetriebnahmeverordnung des Uvek festgelegt.
Geht von einem AKW unmittelbare Gefahr aus, kann das ENSI die Abschaltung verfügen.
Damit will die Aufsicht verhindern, dass Atomkraftwerke «ausgefahren werden», wie ENSI-Direktor Hans Wanner betonte.
Mehr Biss fürs ENSI
Den Schub, den die Abschaltungs-Ankündigung in die Fragen des Atomausstiegs gebracht habe, will er ausnützen. Zwar sieht Nordmann für eine Laufzeitregelung von 40 Jahren, wie er sie persönlich befürwortet, im Parlament keine Chance. Für mehrheitsfähig hält er dagegen den Vorschlag des ENSI, dass ab dem 40. Betriebsjahr erhöhte Sicherheitsmassnahmen erforderlich seien, um die allgemeine Versprödung der Anlage zu kompensieren.
«Es ist matchentscheidend, dass das ENSI von den Betreibern wissen muss, bis wann sie die Anlagen betreiben wollen, damit die Behörde die Sicherheitsmassnahmen auf diesen Termin hin genau kalibrieren kann», so Nordmann.
Im Falle der Nichteinhaltung einer grösseren Sicherheitsmarge müsse das ENSI die Abschaltung verordnen können. Dafür müsse die Behörde aber rechtlich besser gestellt werden.
«Jetzt ist Beznau dran»
Just die verschärften Sicherheitsbestimmungen am Lebensende eines AKW sind es, mit denen Atomkraft-Gegner Nordmann nun die Abschaltung der Atomkraftwerke Beznau I und II vorantreiben will. Mit einem Betrieb seit 1969 resp. 1972 sind sie die ältesten Atommeiler der Welt.
«In Beznau bestehen hohe Risiken durch Überflutung. Fliesst verstrahltes Kühlwasser ab, wären entlang des Rheins Hunderte Millionen von Menschen betroffen», argumentiert er.
Nordmanns politischer Stossrichtung sieht Atomkraft-Befürworter This Jenny gelassen entgegen. Weder hegt er die Befürchtung, dass dem ENSI mit dem signalisierten Entgegenkommen in der Öffentlichkeit ein Glaubwürdigkeitsproblem erwachsen könnte. Noch geht der Glarner Ständerat davon aus, dass der Entscheid der Forderung der Atomgegner nach einer Laufzeitregelung neuen Auftrieb verleiht. «Man muss nicht hyperventilieren, nur weil in einem von hunderten von Kernkraftwerken etwas passiert ist», sagt er.
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