Navi Pillay: «Das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte hat die falsche Struktur»
Die Südafrikanerin Navanethem Pillay war von 2008 bis 2014 UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte. Was sie über den "härtesten Job der UNO" zu sagen hat.
Navanethem Pillay hat eine einzigartige Karriere gemacht. Als Richterin am Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda trug sie dazu bei, dass Vergewaltigung als Teil des Völkermords anerkannt wurde. Und sie war die einzige Hochkommissarin für Menschenrechte, die zwei Mandate erhielt (2008-2014).
«Navi», wie sie gerne genannt wird, wurde 1941 als Kind indisch-tamilischer Herkunft in Durban, Südafrika, geboren und war stark davon geprägt, in einer rassistischen Gesellschaft aufzuwachsen.
«Schon als Sechsjährige, als meine Eltern sagten: ‹Nein, wir können nicht an diesen Strand gehen, der ist nur für Weisse; nein, du kannst nicht auf diesen Schaukeln spielen, der Park ist nur für Weisse›, dachte ich, was ist das für ein Gesetz? Das ist nicht fair!», erzählt sie SWI swissinfo.ch.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte war auch deshalb etwas, das ihr und anderen Menschenrechtsaktivist:innen im Südafrika der Apartheid sehr viel bedeutete. Später wurde sie als Hochkommissarin gewissermassen zur Hüterin dieser bahnbrechenden Erklärung, die 1948 von der UNO verabschiedet worden war. Sie stimmt zu, dass dies ein sehr anspruchsvolles Amt ist.
Pillay sagt, dass die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die daraus hervorgegangenen Konventionen das Ergebnis eines zivilgesellschaftlichen Engagements waren und nicht von den Staaten selbst kamen. Obwohl diese alle unterschrieben hätten, kämen sie ihren Verpflichtungen nicht unbedingt nach.
Im Jahr 2023 hat SWI swissinfo.ch einen Schwerpunkt auf den 75. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gelegt – diesem bahnbrechenden Grundsatzpapier, das das meistübersetzte Dokument der Welt sein soll.
Der derzeitige UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, beschreibt die Erklärung als «ein transformatives Dokument… als Antwort auf die katastrophalen Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs».
Die Allgemeine Erklärung wurde bereits 1948 verfasst. Trotzdem dauerte es bis 1994, bis mit dem Ecuadorianer José Ayala Lasso der erste UN-Kommissar ernannt wurde. Der Posten als Kommissar gilt seither vielen als der härteste Job der UNO.
Für unseren Podcast Inside Geneva haben wir sämtliche ehemaligen UNO-Hochkommissar:innen für Menschenrechte interviewt und gefragt, wie sie den Einfluss der Menschenrechtserklärung und ihres Amtes und die Entwicklung der Welt sehen.
«Warum sind so viele Anstrengungen seitens der Zivilgesellschaft und so viele UN-Mechanismen erforderlich, um die Staaten dazu zu bringen, sich an die internationalen Standards zu halten, die sie angeblich unterstützen?», fragt sie. «Darin sehe ich die grösste Herausforderung.»
Sozialen Medien und Syrien
Pillay erinnert sich, wie sie das Amt antrag, inmitten des Siegeszugs der sozialen Medien. Eine der wichtigsten Aufgaben der Hohen Kommissarin ist es, Menschenrechtsbedürfnisse zu erkennen und sich dazu zu äussern. Damals habe man normalerweise versucht, Meinungsbeiträge in grossen Zeitungen wie der New York Times zu platzieren, die diese dann entweder veröffentlichten oder manchmal auf der letzten Seite versteckten.
«Aber mit den sozialen Medien gingen die Erklärungen, die ich als Hochkommissarin abgab, sofort um die Welt. Für mich war das wie ein Wunder», sagt sie. «Für jemanden der älteren Generation wie mich war es einfach unglaublich, als mein Büro diese Nachrichten verfolgte und zu mir sagte: ‹Ihr Post von gestern wird jetzt von zwei Millionen Menschen gelesen›. Es hiess, dies die goldenen Jahre für die Menschenrechte seien angebrochen.»
Pillay war auch Hochkommissarin für Menschenrechte als sich der Arabische Frühling Bahn brach und zu des Beginns des syrischen Bürgerkriegs im Jahr 2011. Das war eine schwierige Zeit, erinnert sie sich.
«Die Herausforderung für mich bestand darin, eine Flugverbotszone zu fordern, um die Zivilbevölkerung vor den Luftangriffen von Bashar al-Assad zu schützen. Ich reagierte damit auf Bitten der Zivilgesellschaft und auf Untersuchungen des OHCHR [UN-Menschenrechtsbüro]. Ich habe diesen Aufruf in Brüssel vor EU-Vertretern gemacht und von ihnen erfahren, dass dafür eine militärische Operation nötig sei.»
Sie sagt, sie sei zutiefst beunruhigt gewesen über die massiven Kriegshandlungen, die darauf folgten zwischen den von Russland unterstützten Streitkräften Al-Assads und den Koalitionstruppen ‒ und die zu massiver Zerstörung und Vertreibung von Menschen in einem Konflikt führten, dessen Ende noch immer nicht abzusehen ist.
«Ich habe mich darüber geärgert, dass ich möglicherweise ungewollt zu dem katastrophalen Ergebnis beigetragen habe, indem ich von vornherein den Schutz vor Bombenangriffen auf Syrer gefordert habe», sagt sie gegenüber SWI.
Der Kampf und gleiche Rechte
Pillay betont, dass die Arbeit in ihrem UN-Büro in Genf nicht nur das Verdienst einer einzelnen Person war, sondern eines ganzen engagierten Teams. Besonders stolz ist sie jedoch auf ihre Arbeit zur Bekämpfung von Diskriminierung, zum Beispiel im Bereich der LGBTQI-Rechte.
«Ich war die Hochkommissarin, die dieses Thema auf die Tagesordnung des Menschenrechtsrates gesetzt hat, und dann wurde es vor die Generalversammlung gebracht, und in der Folge gab es viele Diskussionen und viel Unterstützung aus verschiedenen Teilen der Welt, aus dem Norden und dem Süden.»
Ein weiteres Thema, auf das sie sehr stolz sei, sei das Kastenwesen. Indien hatte es jahrzehntelang erfolgreich geschafft, dieses Thema von der UNO-Agenda fernzuhalten.
«Als ich in Genf eine Konferenz zu diesem Thema initiierte und Podiumsdiskussionen aus der ganzen Welt veranstaltete, konnte ich Indien sagen: Ihr seid nicht allein: Kastendiskriminierung gibt es auch in all diesen anderen Ländern. Wir hatten Leute von den Inseln vor Japan, wir hatten Leute aus Mauretanien, wo noch immer Sklaverei praktiziert wird, und aus Nepal.»
Sie musste diplomatisch sein. Der indische Botschafter sagte zu mir: «Kaste ist ein indisches Wort, es macht nur in Indien Sinn, und Sie sollten es nicht verwenden. Deshalb wollen wir auch nicht, dass es in einem internationalen Forum diskutiert wird», sagt Pillay.
«Ich habe ihm geantwortet, er solle grosszügig sein und der Welt das Wort zur Verfügung stellen, so wie Südafrika das Wort Apartheid in den internationalen Diskurs eingebracht hat.»
Die Tätigkeit als Hochkommissarin unterschied sich sehr von ihrer früheren Tätigkeit als Richterin. «Wissen Sie, wir waren verurteilend, wir haben Menschen verurteilt. Aber als Hochkommissarin muss man eine Fürsprecherin sein, das richtige Argument und den richtigen Ansatz finden und Hilfe anbieten, um den Schutz der Menschenrechte voranzubringen», sagt sie.
Falsche Struktur
Als Hochkommissarin gefiel ihr am besten, «wenn die Botschaft ankam». Aber es gab auch Dinge, die sie an diesem Job hasste. «Ich denke, es ist eine falsche Struktur, wenn eine Person an der Spitze der Pyramide sitzt und jeder diese eine Person sehen will, ob es nun Minister aus verschiedenen Ländern, das Personal oder die Zivilgesellschaft sind», sagt Pillay. «Und das war einfach überwältigend. Ich hatte alle 15 Minuten ein Meeting, das hat sogar meine Mittagspause aufgefressen.»
Als Anwältin und Richterin habe sie Unabhängigkeit und «Zeit zum Nachdenken» genossen und sei «nicht ständig unter Druck» gewesen. Bevor sie das Amt der Hochkommissarin antrat, habe sie sich bei ihrer Vorgängerin Louise Arbour erkundigt, die ebenfalls sagte, Zeitmangel sei ihre Hauptsorge, «und ich sagte ihr, dass ich meinen Zeitplan selbst bestimmen werde». Doch als sie ihr Amt antrat, sagte Pillay, dass sie dabei «hoffnungslos versagt» habe.
Mit 81 Jahren ist Navanethem Pillay immer noch in der Menschenrechtsarbeit aktiv. Derzeit ist sie Vorsitzende der Unabhängigen Untersuchungskommission für die besetzten palästinensischen Gebiete, die 2021 vom UN-Menschenrechtsrat in Genf eingesetzt wurde.
Editiert von Imogen Foulkes, aus dem Englischen übertragen von Marc Leutenegger
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