Stéfanie Prezioso will im Bundeshaus eine «Vertreterin der Basis» bleiben
Stéfanie Prezioso, Historikerin und Tochter von italienischen Einwanderern, wurde in Genf als Vertreterin einer Koalition der radikalen Linken in den Nationalrat gewählt. In Bern will sie sich für die Forderungen der sozialen Bewegungen einsetzen. Ein Porträt.
Seit den nationalen Wahlen im Oktober ist das Schweizer Parlament weiblicher als je zuvor. Auch wenn noch keine Parität erreicht wurde, besetzen Frauen immerhin 42% der Sitze im Nationalrat, der grossen Parlamentskammer. swissinfo.ch publiziert Porträts von acht neu gewählten Parlamentarierinnen verschiedener Parteien.
Das Treffen findet am Bahnhof Bern statt. Stéfanie Prezioso hat soeben am Einführungstag für neu gewählte Parlamentarierinnen und Parlamentarier teilgenommen.
Sie ist Vertreterin der Bewegung «SolidaritéS» und Gewählte auf der Liste Ensemble à GaucheExterner Link (gemeinsam nach links), einer Koalition der radikalen Linken. Im Nationalrat wird Prezioso zur Fraktion der Grünen gehören. «Aber ich werde die volle Stimm- und Redefreiheit haben», betont sie.
Die Wahl von Stéfanie Prezioso verhilft dem Linksaussen-Flügel zu einem zweiten Sitz, nebst jenem von Denis de la Reussille (Partei der Arbeit, Neuenburg). Dass sie «nur» die Drittplatzierte war, hat in der Presse und den sozialen Medien der französischsprachigen Schweiz zu Polemiken geführt.
Ideen, nicht Personen
Als Listenführerin erhielt Stéfanie Prezioso ihren Sitz nach dem Wahlverzicht von zwei weiteren Kandidierenden, Jocelyne Haller und Jean Burgermeister, die mehr Stimmen erhielten als sie. «Der Trick mag legal sein, aber er ist nicht minder peinlich», schrieb dazu die Tageszeitung Tribune de Genève in einem Kommentar.
Die Diskussion sei nicht angenehm gewesen und habe einige Spuren hinterlassen, räumt die Neugewählte ein, die auf den sozialen Medien sehr aktiv ist. Sie bekräftigt nochmals, was sie bereits mehrfach gegenüber der Presse gesagt hat: «In unserer Partei zählen die Ideen, nicht die Personen. Wir wollen die Politik nicht personalisieren, wir verstehen uns eher als Kollektiv.»
Arbeiterschafts- und sozialistische Wurzeln
Hier und da wurde auch bezweifelt, ob eine Akademikerin –Prezioso ist Professorin an der Universität LausanneExterner Link – die Interessen der unteren Schichten im Parlament vertreten kann. Sie stellt sich der Frage des Journalisten, denn diese erlaubt es ihr, zu den Wurzeln ihrer politischen Überzeugungen zurückzugehen.
Prezioso wurde vor fünfzig Jahren in La Chaux-de-Fonds im Kanton Neuenburg geboren und wuchs in einer Familie italienischer Einwanderer auf. Ihr Vater, ein Neapolitaner, war Arbeiter in der Uhrenindustrie bei Novo Cristal. «Er war ein sozialistischer Aktivist, aber ohne Mitglied in einer Partei zu sein», erinnert sich seine Tochter. Er war im italienischen Gewerkschaftsbund und der italienischen Emigration tätig.
Preziosos Mutter stammt aus Sizilien, ist Feministin und war Mitglied der kommunistischen Partei in Italien. «Feministisch und linksgerichtet zu sein, war damals in Sizilien nicht leicht. Von ihr habe ich gelernt, mich zu wehren.» Die Familie hat sie die Werte des politischen Engagements gelehrt, zu Hause waren immer Leute, Aktivisten und Arbeiter, es wurde viel diskutiert.
Ungerechtigkeit erfahren
Wegen der Krise in der Uhrenindustrie zog die Familie Anfang der 1980er-Jahre nach Yverdon, wo die Eltern ein Geschäft eröffneten. «Sie waren keine Arbeiter mehr, aber sie stürzten sich weiterhin in die Arbeit», sagt Prezioso.
Während der Umstand, Tochter italienischer Einwanderer zu sein, in der Arbeiterstadt La Chaux-de-Fonds keine Rolle spielte, musste Prezioso in der waadtländischen Kleinstadt die Erfahrung machen, nicht als «eine von ihnen» zu gelten. In der Schule fühlte sie sich ausgeschlossen, sie wurde von den Lehrpersonen nicht unterstützt.
Die Erfahrung von Rassismus löste etwas aus. «Ich glaube, dass von da das Bedürfnis stammt, diejenigen zu verteidigen, die Unrecht erleiden.»
Politik und Geschichte
Trotz der Hindernisse schaffte es Stéfanie Prezioso an das Gymnasium in Lausanne. Als junge Studentin interessierte sie sich für den Feminismus und sympathisierte mit der sandinistischen Revolution in Nicaragua und der palästinensischen Sache. Wie viele ihrer Generation ist sie auch geprägt von der Kampagne für die Initiative zur Abschaffung der Armee.
Zur Leidenschaft für die Politik kam bald jene für Zeitgeschichte hinzu, die von ihrem Gymnasiallehrer geweckt wurde. Seine Schullektionen, im Besonderen über die Schweiz im Zweiten Weltkrieg, sensibilisierten sie für die Zusammenhänge zwischen Geschichte und Politik.
Nach der Matura studierte sie Geschichte an der Universität Lausanne. Von Anfang an war ihr Bezugspunkt Hans-Ulrich Jost, Professor für Zeitgeschichte, ein führender Vertreter einer kritischen Geschichtsschreibung, die viele Mythen über die Vergangenheit der Schweiz in Frage stellt.
Von der Universität ins Parlament
In ihren Studien beschäftigte sich Prezioso mit der Geschichte der Arbeiterbewegung, der Migration, dem historischen Revisionismus und dem öffentlichen Nutzen der Geschichte. «Aber der rote Faden meiner Interessen bleibt der Antifaschismus», sagt sie. Während eines Studienaufenthalts in Florenz forschte sie über Fernando Schiavetti, einen Vertreter von «Giustizia e libertà» im Exil in Zürich. Für ihre Doktorarbeit kehrte sie erneut in die Stadt am Arno zurück.
Dem Vorbild ihres Vaters folgend, zögerte sie, offiziell einer Partei beizutreten. Erst 2003 trat sie «SolidaritéS» bei. Lange Zeit blieb sie eine einfache Aktivistin an der Basis. 2014 trat sie dem Stadtparlament der Stadt Genf bei, wo sie allerdings nur zehn Monate blieb. Sie war Mitglied der Kulturkommission und setzte sich für bessere Arbeitsbedingungen in einem Genfer Theater ein.
«Die Kandidatur für den Nationalrat war meine erste wichtige Kandidatur», sagt sie. Es sei die Partei gewesen, die sie dazu gebracht habe, mehr Verantwortung zu übernehmen, so Prezioso.
Bindungen zu sozialen Bewegungen
Im Parlament wird Stéfanie Prezioso eine linke Minderheit vertreten, die sich vernetzen muss, um sich Gehör zu verschaffen. «Ich möchte vor allem Verbindungen zu den sozialen Bewegungen im Land herstellen, eine Art Wächterin sein und die Forderungen der sozialen Bewegungen aufgreifen.»
Zu den Themen des Programms von «Ensemble à Gauche», für die sie sich während des Abstimmungskampfs besonders engagiert hat, gehört die Gleichstellung der Geschlechter. «Es gibt noch viel zu tun, um eine wirkliche Gleichstellung von Frauen und Männern zu erreichen, sei es in den Bereichen Löhne, soziale Sicherheit, Rechte von Migrantinnen oder dem Kampf gegen Diskriminierung.» Nicht zu vergessen der Kampf gegen Gewalt an Frauen: «Es müssen Präventionsmassnahmen ergriffen und eine nationale Beobachtungsstelle für Gewalt eingerichtet werden.»
Auch ökologische Themen liegen ihr am Herzen. Wenn sie davon spricht, verwendet sie das Konzept des «Ökofeminismus». Und dann gibt es natürlich noch die Frage der Migration, bei der sie die Debatte in Richtung «ius soli» lenken möchte, also des Rechts aller in der Schweiz Geborenen auf die Schweizer Staatsbürgerschaft.
Im Bereich der Sozialversicherungen und des Rahmenabkommens mit der EU liegen ihre Positionen nahe an denen der Gewerkschaften: Nein zu einer Reform der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) auf den Schultern der Frauen, Nein zu einer Erosion der Massnahmen gegen Lohndumping.
Sie meint, dass es bei vielen Themen möglich sein wird, im Rahmen der parlamentarischen Arbeit Berührungspunkte mit Grünen und Sozialdemokraten zu finden, «auch wenn wir Differenzen haben». Sie fühlt sich auch als Parlamentarierin noch immer als «Aktivistin der Basis»: «Aber gerade deshalb kenne ich die Dossiers gut», warnt sie.
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(Übertragung aus dem Italienischen: Sibilla Bondolfi)
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