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Neue Risiken: alternde Staudämme

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Die 220 Meter hohe Verzasca-Staumauer stammt aus dem Jahr 1965. Keystone / Alessandro Crinari

Tausende von grossen Staudämmen auf der ganzen Welt sind älter als 50 Jahre. Sie haben somit ihre ursprüngliche Lebensdauer überschritten. Sind sie daher nicht mehr sicher? Die Sanierung des Verzasca-Staudamms in der Schweiz stehen für einen sicherheitsgerechten Umgang einer Talsperre mit der Alterung und den Folgen des Klimawandels.

Bauingenieur Francesco Amberg zeigt Emotionen. Er steht auf der Verzasca-Staumauer, wenige Kilometer von Locarno im Kanton Tessin entfernt, und bewundert die spärlichen Reste des Sees unter ihm. Der Stausee ist fast vollständig entleert, die Wassermassen bis auf ein kleines Rinnsal verschwunden. Eine graue, karge und fast mondähnlichen Landschaft tut sich auf.

«Den See fast leer zu sehen, ist schon beeindruckend», sagt Amberg. Im Laufe seines Berufslebens hat er Dutzende von Stauseen in der Schweiz und auf der ganzen Welt gesehen, aber selten wurde er mit einem solchen Anblick konfrontiert.

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«Wie Stausee leer»: Francesco Amberg auf der Verzasca-Staumauer im Kanton Tessin. swssinfo.ch / Luigi Jorio

Mit 220 Metern ist der Verzasca-Staudamm einer der höchsten in Europa. James Bond machte ihn 1995 im Film «Golden Eye» weltberühmt. Von der Dammkrone stürzte sich der britische Geheimagent 007 damals gleich zu Beginn des Films an einem Gummiband ins Leere. Allerdings war es nicht der Schauspieler Pierce Brosnan selbst, sondern der Stuntman Wayne Michaels.

Die Talsperre wurde 1965 fertiggestellt. Nach mehr als 50 Betriebsjahren sind Sanierungsarbeiten erforderlich. Der Alterungsprozess kann die Funktionalität sowie die Sicherheit eines solchen Bauwerks beeinträchtigen. Trotzdem gibt es Indizien, die aufzeigen, dass diese Risiken weltweit nicht ernst genommen werden. Tausende von grossen Staudämmen weisen Verschleisserscheinungen auf.

>> Sehen Sie die spektakulären Bilder des fast vollständig entleerten Verzasca-Stausees:

Mauerbeton ist nicht das Problem

Die Sanierung der Verzasca-Staumauer umfasse alle Teile, die dazu dienten, Wasser aus dem Stausee flussabwärts zu leiten, erklärt Francesco Amberg, der zum Ingenieurs-Team gehört, das für die Sanierung verantwortlich ist. Insbesondere müssen die beiden Drosselklappen am Ende der Druckrohrleitungen ersetzt werden, die der Unterbrechung des Wasserflusses zu den Turbinen dienen. Die Techniker der Verzasca SA erneuern zudem den Korrosionsschutz im Schacht unter dem Stausee, ausserdem müssen die Betonwände in der Expansionskammer saniert werden.

Die Bogenstaumauer hingegen erfordert keine aussergewöhnlichen Unterhaltsarbeiten. Im Gegensatz zu anderen Talsperren desselben Bautyps wurde keine chemische Instabilität des Betons festgestellt. Das wichtigste Phänomen, das im Laufe der Zeit auftreten kann, ist die so genannte «Alkali-Aggregat-Reaktion»Externer Link (AAR). Diese tritt auf, wenn Wasser mit bestimmten im Beton enthaltenen Gesteinskörnungen, etwa Kieselsäure, reagiert. Das Ergebnis ist eine Ausdehnung des Betons und eine Dehnung des Dammes, die einen Druck auf die Stützfelsen erzeugt.

Dieser Verfallsprozess an Betonbauten ist seit den 1940er-Jahren bekannt und betrifft auch andere grosse Bauwerke wie Stützmauern und Brücken. «Ich würde es nicht apriori als Problem bezeichnen, weil die Stabilität der Struktur nicht beeinträchtigt wird, aber eine Überwachung ist nötig», sagt Amberg. Wenn sich der Beton zu stark ausdehnt, schneiden die Ingenieure ihn mit einem Diamantseil vertikal durch, um die Kräfte im Inneren des Damms zu verringern.

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Staumauer von Montsalvens im Kanton Freiburg 1968. Keystone / Wir.

Älter ist aber nicht gleich gefährlicher. Oft ist sogar das Gegenteil der Fall. Francesco Amberg sagt, er dürfe sich heute sicherer fühlen als bei der Inbetriebnahme der Verzasca-Anlage: «Der kritischste Moment ist der Anfang, die erste Füllung, das erste seismische Beben». Internationale StudienExterner Link zeigen auf, dass sich viele Unfälle in den ersten fünf Jahren nach der Inbetriebnahme ereignen.

In der Schweiz sind die Betonstaumauern so angelegt, dass sie Erdbeben standhalten, die einmal alle 10’000 Jahre auftreten können. Laut Amberg ist die Gesetzgebung besonders streng, wenn es um die Sicherheit dieser Anlagen geht. Beispielsweise müssen alle Staudämme in der Lage sein, Wasser schnell abzulassen, um das System ausser Betrieb zu setzen.

Zudem werden die Schweizer Staudämme regelmässig überprüft und ihre Sicherheit auf der Grundlage aktueller Erdbebenkarten neu bewertet. «Im internationalen Kontext ist dies nicht immer der Fall», so der Ingenieur.

Durchschnittsalter 69 Jahre

Weltweit gibt es gemäss einer Auflistung der Internationalen Kommission für Grossstaudämme (ICOLDExterner Link) knapp 59’000 Grossstaudämme. Ein Grossstaudamm ist nach Definition der Staudamm-Erbauer höher als 15 Meter oder hat eine Speicherkapazität von über drei Millionen Kubikmeter Wasser. China verfügt mit nicht weniger als 24’000 über die meisten Grossstaudämme.

Die Schweiz ihrerseits gehört zu den Ländern mit der höchsten Dichte an Talsperren beziehungsweise Dämmen. Es gibt 188 grosse Staudämme, und 58% des in der Schweiz erzeugten Stroms stammt aus Wasserkraft.

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Nach Angaben der ICOLD wurden weltweit rund 19’000 Grossstaudämme vor mehr als 50 Jahren gebaut, also jeder dritte. Sie haben somit die Untergrenze der Lebensdauer eines Staudamms überschritten und sind theoretisch sanierungs- beziehungsweise renovationsbedürftig.

Die meisten grossen Staudämme auf der Welt wurden in den 1960er- und 1970er-Jahren gebaut. Seither ist die Zahl der Neubauten stetig zurückgegangen. Der Grund dafür ist die wachsende Sorge vor den Umweltauswirkungen dieser Bauwerke.

Die Lebensdauer hängt von verschiedenen Faktoren ab, unter anderem von der Art des Dammes (Beton, Fels oder Erdreich) und der Qualität der Baumaterialien. «Stahlbetondämme weisen die höchsten Verschleisserscheinungen auf, da sie der Korrosion infolge von Karbonatisierung unterliegen», erklärt Jean-Claude Kolly, Bauingenieur und Kommunikationschef des Schweizerischen Talsperrenkomitees (swissdamsExterner Link), gegenüber swissinfo.ch.

Die Anlagen in Japan und im Vereinigten Königreich haben die Anlagen mit 111 beziehungsweise 106 Jahren das höchste Durchschnittsalter aller Dämme in der Welt. In der Schweiz liegt der Altersdurchschnitt bei 69 Jahren. «Das ist ein relativ hohes Alter, aber ohne Alkali-Aggregat-Reaktionen oder Karbonatisierung kann sich die Lebensdauer problemlos noch verdoppeln», meint Kolly.

Ein gutes Beispiel für die lange Lebenszeit ist der Maigrauge-Staudamm im Kanton Fribourg. Dieser wurde 1872 in Betrieb genommen und ist somit die älteste Betontalsperre Europas. «Er wurde 2005 renoviert und ist auch heute noch voll funktionsfähig», sagt Kolly.

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Risiken des Alterns

Allerdings sind nicht alle Talsperren auf der Welt in dem gleichen guten Zustand wie jene der Maigrauge. Forscher der Universität der Vereinten Nationen (UNU) warnen sogar davor, dass die Alterung grosser Staudämme «ein neu auftauchendes und globales Risiko» darstellt. Diesem Phänomen müsse mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Ein gut geplanter, gut gebauter und gewarteter Staudamm kann problemlos ein Jahrhundert in Betrieb bleiben. Für viele Staudämme auf der ganzen Welt gilt dies aber nicht. In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurden Dutzende von Dämmen in den Vereinigten Staaten, Indien, Brasilien, Afghanistan und anderen Ländern schwer beschädigt oder sind sogar gebrochen. Die Zahl der Unfälle könnte laut einer 2021 veröffentlichten UNU-StudieExterner Link ansteigen.

Die Alterung beeinträchtigt nicht nur die Effizienz und Funktionalität von Wasserkraftwerken. Sie stellt auch eine potenzielle Bedrohung für Hunderte von Millionen Menschen dar. Dem Bericht zufolge wird im Jahr 2050 mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung unterhalb eines grossen, im 20. Jahrhundert erbauten Staudamms leben.

Um diesem wachsenden Risiko entgegenzuwirken, sind internationale Anstrengungen und verstärkte Unterhaltsarbeiten nötig. Zumal neben den natürlichen Abnutzungserscheinungen bei den Dämmen auch die Folgen der globalen Erwärmung spürbar werden.

Starke Überschwemmungen und Niederschläge können diese Strukturen an ihre Grenzen bringen und die Wahrscheinlichkeit eines Nachgebens der Infrastruktur erhöhen, sagt Duminda Perera vom Institut für Wasser, Umwelt und Gesundheit an der United Nations University, Hauptautor der erwähnten Studie.

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Im Mai 2020 brach der Sanford-Damm in den USA nach sintflutartigen Regenfällen. Keystone / Tannen Maury

Gletscher und Permafrost schmelzen

Auch für die Talsperren in der Schweiz besteht ein erhöhtes Hochwasserrisiko. «Wir sind dabei, die Kapazitäten der Überlaufbecken neu auszuloten», sagt Ingenieur Amberg. Seine grösste Sorge ist die Ansammlung von Holz nach starken Regenfällen. Es sei sehr wichtig, die Wälder rund um die Stauseen gut zu pflegen, um zu verhindern, dass Stämme und Äste in den See gelangten und die Entlastungsabläufe blockierten.

Wenn die Temperaturen steigen, schmilzt der Permafrostboden und die Berghänge können instabiler werden. Dadurch erhöht sich die Gefahr von Erdrutschen, was wiederum eine verheerende Flutwelle auslösen könnte, so wie 1963 beim Vajont-Staudamm in Italien.

Auch die durch das Schmelzwasser der Gletscher transportierten Ablagerungen bereiten den Anlagenbetreibern Sorgen. Diese Mineralien haben eine abrasive (reibende) Wirkung auf Leitungen und Turbinen und sie lagern sich vor allem im Staubecken ab, wodurch dessen Fassungsvermögen verringert wird.

Am Verzasca-Staudamm sind Ablagerungen dieser Art kein Problem, da der See hauptsächlich durch Regenwasser gespeist wird. Im Frühjahr, wenn die Modernisierungsarbeiten abgeschlossen sein werden, wird sich der Stausee allmählich füllen und das Tal sein türkisfarbenes Wasser zurückerhalten. Der Sanierungsprozess ist dann abgeschlossen. Von der Mauer oben aus wirft Ingenieur Amberg einen letzten Blick in die Tiefe: «Wer weiss, wann ich jemals wieder so eine Aussicht haben werde.»

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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