Neue Visaregeln wecken Hoffnung und werfen Fragen auf
Die Schweizer Regierung hat jüngst die Visumsregeln gelockert, um syrischen Familien in der Schweiz den Nachzug von Verwandten aus dem von Krieg zerrütteten Staat zu erleichtern. Was bedeutet das für die Praxis? swissinfo.ch hat Syrer in der Schweiz befragt.
«Es ist eine wirklich gute Sache, das Verfahren ist jetzt viel einfacher», erklärt Ashti Amir, ein Syrer aus Aleppo, der mit seiner Frau und drei Kindern in der Nähe von Bern lebt.
Amir hatte Schwierigkeiten, mit seinen Verwandten in Kontakt zu bleiben, die in Syrien und auf die Nachbarstaaten verstreut leben. Seit etwa einem Jahr hatte er keinen Kontakt mehr zu einem seiner Brüder und seinen Eltern aus Aleppo.
In den letzten Wochen konnte er aber mit seiner Schwägerin und mit seiner Schwester, die mit ihren Kindern in die Türkei flüchtete, darüber sprechen, dass sie vielleicht aufgrund der erleichterten Regeln für den Familiennachzug in die Schweiz kommen könnten.
Justizministerin Simonetta Sommaruga hatte am 4. September zwei bedeutende Entscheide für syrische Flüchtlinge bekannt gegeben. Über die nächsten drei Jahre wird die Schweiz ein Kontingent von 500 besonders verletzlichen Flüchtlingen aus Syrien aufnehmen. Sie reagierte damit auf eine Anfrage des UNO-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR).
Zudem hat die Schweiz den Kreis von Familienangehörigen ausgeweitet, die einen Antrag für ein Visum stellen können, um zu ihren Verwandten in der Schweiz reisen zu können. Dies gilt neu auch für Kinder über 18 Jahre, Eltern, Grosseltern, Grosskinder sowie Schwester und Brüder, statt wie bisher nur für Ehepartner und Kinder unter 18 Jahren.
Mehr
Leben in Jordaniens Wüstenstadt
Grosser Andrang
Nach Angaben der Justizministerin wird das Verfahren für den Nachzug von Verwandten beschleunigt und erleichtert.
«Vom Standpunkt her, rasch Leben zu retten, ist dieser Entscheid sehr viel bedeutender [als das Kontingent von 500 Flüchtlingen] und sendet auch ein Signal an andere Länder», erklärt Beat Meiner, der Generalsekretär der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH).
Nachdem das Einreisevisum, das für einen Aufenthalt von 90 Tagen in der Schweiz gilt, abläuft, können Syrerinnen und Syrer einen Antrag auf eine Aufenthaltsbewilligung einreichen oder Asyl beantragen. Gegenwärtig werden Menschen aus Syrien, deren Antrag abgelehnt wurde, wegen des Kriegs nicht zurückgeschickt, sondern erhalten eine vorläufige Aufenthaltsbewilligung.
Es ist offen, wie viele syrische Familienangehörige in nächster Zeit in die Schweiz kommen werden. Die gelockerten Visumsbestimmungen gelten nur für Familienangehörige von Syrern, die bereits in der Schweiz leben und entweder eine Niederlassungsbewilligung oder einen Schweizer Pass haben, nicht aber für vorläufig Aufgenommene. Heute leben schätzungsweise 6000 Syrer in der Schweiz, etwa 1600 davon mit einer regulären Niederlassungsbewilligung.
Meiner denkt, dass «Hunderte» von Syrern in der Schweiz Interesse haben und versuchen dürften, Verwandte hierher zu bringen. «Wir haben viele Anrufe von Syrern in der Schweiz erhalten mit Fragen zu diesem Thema.»
Mehr als zwei Millionen Menschen sind nach UNO-Angaben bisher vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflüchtet, die meisten unter ihnen in die Nachbarländer. Weitere 4,25 Mio. Menschen sind innerhalb von Syrien vertrieben worden.
Im Verlauf der letzten 30 Monate sind in dem Krieg schon über 100’000 Menschen getötet worden.
Die Schweiz hat seit 2012 auf Anfrage des UNO-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) über 70 Flüchtlinge aus dem Syrien-Krieg aufgenommen und versprochen, über die kommenden Jahre 500 weitere aufzunehmen. Eine erste Gruppe syrischer Flüchtlingen soll im Oktober in der Schweiz eintreffen.
Die Glückskette, die Spendenorganisation der Schweizerischen Rundfunk- und Fernsehgesellschaft (SRG), hat bisher 13 Mio. Franken für Hilfsprojekte zugunsten von Opfern des Kriegs in Syrien gesammelt.
«Nur Reiche»
Syrer in der Schweiz, mit denen swissinfo.ch gesprochen hat, begrüssen die Neuerungen grundsätzlich. Viele weisen aber darauf hin, dass die grosse finanzielle Belastung, die ein Nachzug von Verwandten in das teure Alpenland mit sich bringe, ein bedeutendes Hindernis sei.
«Es ist nicht einfach. Zuerst kommt das Flugticket, dann Versicherung und Unterkunft. Nur reiche Leute können ihre Verwandten hierher bringen», sagt Ali Zeda, ein syrischer Mechaniker, der mit seiner Frau und vier Kindern in Prilly lebt. «Es ist viel besser, wenn die Schweiz Syrern dort hilft, wo sie jetzt sind, etwa in Libanon, Ägypten oder Jordanien.»
Raymond Arbach, ein Syrer, der seit 30 Jahren in der Schweiz lebt, sieht das ähnlich. «Ich habe Cousins, die in ständiger Gefahr leben, aber ich kann nicht von den neuen Regeln profitieren, da ich mich nicht um meine Verwandten kümmern kann, wenn sie hierher kommen. Das kostet viel Geld, ich kann mir das schlicht nicht leisten.»
Amir, der als Berater für syrische Flüchtlinge in der Schweiz arbeitet, erklärt, zusätzliche Hilfe könnte von privater Schweizer Seite kommen. Er wisse von Schweizern in Bern und Basel, die sich bereit erklärt hätten, syrische Flüchtlinge bei sich aufzunehmen, diese Idee werde nun weiter verfolgt.
Das UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) erklärte im Juni in seinem Regionalen Syrien-Notfallplan 2013, dass die Organisation 10’000 Plätze für humanitäre Aufnahmen sucht, sowie 2000 Plätze zur Neuansiedlung in einem sicheren Drittland für Syrer in akuter Notlage.
Seither haben sich Deutschland und Österreich im Rahmen der humanitären Aufnahme für 5000 respektive 500 Plätze verpflichtet.
Auch Australien, Dänemark, Finnland, Kanada, die Niederlande, Neuseeland, Norwegen, Spanien, Schweden und die Schweiz haben Kontingentsplätze angeboten. Insgesamt boten diese Staaten 1650 Plätze für Umgesiedelte an, davon 960 für 2013.
Die USA signalisierten ihre Bereitschaft, weitere Plätze anzubieten, ohne bisher Angaben zum Umfang zu machen.
Leben in der Schwebe
Der Entscheid der Schweizer Regierung hat auch bei Leserinnen und Lesern von swissinfo.ch Reaktionen ausgelöst.
«Die Schweizer haben mehr ethische und humanitäre Werte als irgend ein arabisches Land», erklärte ein Leser auf der arabischsprachigen Facebook-Seite. «Ich habe keinen einzigen Golfstaat gefunden, der seine Tore für unsere syrischen Brüder geöffnet hat. Möge Gott dieses Land [Schweiz] beschützen.»
Andere Stimmen vertraten die Ansicht, die Schweiz sollte Syrern Vorrang geben, die bereits Asyl beantragt hätten und in der Schweiz auf den Entscheid über ihren Status warteten.
«Die Schweizer sollten zuerst jenen eine Aufenthaltsbewilligung erteilen, die in den letzten drei Jahren hier lebten, danach könnten sie die Tür für weitere Immigration öffnen», schrieb ein anderer Leser.
Zwischen März 2011 und Juli 2013 wurden in der Schweiz 372 Syrer als Flüchtlinge anerkannt und 758 vorläufig aufgenommen. Beim Bundesamt für Migration sind zur Zeit 2825 syrische Gesuche hängig. Jeden Monat werden zwischen 50 und 100 neue eingereicht.
Einige der syrischen Asylsuchenden in der Schweiz beklagen sich, dass sie ohne klaren Status in der Schwebe lebten, nicht arbeiten dürften und das Gefühl hätten, ihre Gesuche erhielten nicht ausreichend Priorität. Andere zeigen sich unglücklich, dass sie für Jahre in Asylunterkünften leben müssten.
Proteste in Bern
In der vergangenen Woche protestierten etwa 300 syrische Asylsuchende mit einer friedlichen Aktion vor dem Bundesamt für Migration (BFM) in Bern gegen die aus ihrer Sicht «unerklärliche Zurückhaltung», mit der ihre Fälle bearbeitet würden. Etwa ein Dutzend von ihnen soll in einen Hungerstreik getreten sein.
«Wieso dauert es derart lange, auf unsere Gesuche zu antworten? Wir können mit einem N-Ausweis [Personen im Asylverfahren, dürfen in der Schweiz sein, unter bestimmten Umständen kann eine unselbständige Erwerbstätigkeit erlaubt werden] kein menschenwürdiges Leben in der Schweiz führen oder uns hier richtig integrieren. Wir brauchen dringend stabile Aufenthaltsbewilligungen», erklärte der Protestteilnehmer Esam Al-Omar.
Die Konsequenzen können dramatisch sein. Ein Schweizer Flüchtlingshilfe-Experte, der anonym bleiben wollte, erklärte, dass Syrer, viele darunter sehr junge, mit grossen Hoffnungen in die Schweiz kämen. Wegen der langen Wartezeiten würden sie oft depressiv und brauchten dann psychiatrische Behandlung.
Als sie ihren Protest mit der Aktion vor dem BFM an die Öffentlichkeit trugen, verwiesen die Demonstrierenden auf das Beispiel Schweden, das Anfang September aufgrund der extremen Lage in Syrien als erstes europäisches Land allen syrischen Flüchtlingen in Schweden eine permanente Aufenthaltsbewilligung erteilte. Schweden nahm 2012 und 2013 fast 15’000 syrische Flüchtlinge auf.
Mario Gattiker, Direktor des Bundesamts für Migration, empfing eine Delegation der Protestierenden zu einem Gespräch. Dabei versprach er, dass jene, die ihre Asylgesuche bis und mit 2009 eingereicht hatten, bis spätestens Ende dieses Jahres einen Entscheid erhalten würden. Diese Woche ist ein weiteres Treffen geplant, bei dem es um die Gesuche gehen soll, die nach 2009 eingereicht wurden.
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch