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Neuer Prämienschock: Schweizer Haushalte ächzen noch mehr unter Gesundheitskosten

Kranker Mann mit einer Tasse Tee liegt auf dem Sofa
Die ständig und stark steigenden Krankenkassenprämien sind zur Hauptsorge der Menschen in der Schweiz geworden, wie eine grosse SRG-Umfrage zeigt. Keystone / Martin Ruetschi

In der Schweiz tragen die Krankenversicherten einen Viertel der Gesundheitskosten. Der neue Anstieg der Krankenversicherungsprämien von fast neun Prozent, der am Dienstag für 2024 angekündigt wurde, wird ihr Budget künftig noch mehr belasten. Nur: Eine Reform des Systems grenzt ans politisch Unmögliche.

Jedes Jahr dasselbe Ritual: Die Gesundheitskosten steigen und mit ihnen die Krankenversicherungsprämien. Wie das Bundesamt für Gesundheit (BAG) am Dienstag bekanntgab, werden die Krankenkassenprämien im nächsten Jahr um durchschnittlich 8,7% steigen.

Diese fortlaufenden Kosten- und Prämienexplosionen sind im Wahljahr 2023 zur grössten Sorge der Schweizer:innen avanciert, wie unsere grosse Umfrage kürzlich gezeigt hat. Im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen am 22. Oktober hat das Problem auch die politischen Debatten belebt.

Die Parteien überbieten sich gegenseitig mit Vorschlägen, wie das Gesundheitssystem zu reformieren sei. Dabei wird aber rasch klar, dass es keine einfachen Lösungen gibt.

Die Tatsache, dass die Schweizer Haushalte einen grossen Teil der Gesundheitskosten selbst tragen müssen, ist fixer Teil des Systems. Die Grundversicherung bei einer Krankenkasse ist für alle, die im Land leben, obligatorisch. Die Prämien variieren aber von Anbieter zu Anbieter teils beträchtlich.

Hinzu kommt, dass die Krankenversicherung nicht die gesamten Gesundheitskosten erstattet, die bei Krankheit oder Unfall entstehen. Die Versicherten müssen einen Teil aus eigener Tasche bezahlen. Je höher dieser Selbstbehalt, desto günstiger die Monatsprämie. Die Franchise ist auf maximal 2500 Franken begrenzt.

So wird ein Viertel des schweizerischen Gesundheitssystems, das zu den teuersten der Welt zählt, direkt von den Patient:innen finanziert. Das zeigt die folgende Grafik, die auf Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) basiert.

Damit liegt die Schweiz über dem Durchschnitt der OECD-Länder. Zum Vergleich: In Frankreich werden nur knapp zehn Prozent der Gesundheitsausgaben von den Haushalten getragen. In Deutschland liegt dieser Anteil bei 12,7% und in Italien bei 23,3%.

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Der Ökonom Carlo De Pietro, ein Spezialist für das Schweizer Gesundheitssystem, stellt fest, dass der Anteil der Gesundheitskosten, den die Einzelpersonen in der Schweiz tragen, im Laufe der Jahre nur geringfügig gestiegen ist. «Er ist seit dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) im Jahr 1996 hoch. In dieser Hinsicht hat die Schweiz in Europa eine Sonderstellung», sagt er.

Eigenverantwortung gross geschrieben

Der Experte für Gesundheitspolitik ist der Ansicht, dass es sich um eine gesellschaftliche Entscheidung handelt, die auf der individuellen Verantwortung beruht. Er spricht von «einer Art Totem in der Schweiz». «Als reiches Land könnte es sich die Schweiz leisten, mehr Gesundheitskosten zu sozialisieren, aber sie kann es sich auch leisten, einen grossen Teil davon auf die Schultern der Haushalte zu legen, weil ein grosser Teil von ihnen reich ist», so Carlo De Pietro.

In den Augen des Ökonomen besteht die Besonderheit des helvetischen Modells jedoch darin, dass alle in der Schweiz lebenden Personen obligatorische Krankenversicherungsprämien zahlen müssen, die nicht vom Einkommen oder den finanziellen Mitteln des Haushalts abhängen. «Das ist eine Ausnahme in der Welt. In fast allen anderen Ländern sind die Beiträge proportional zum Haushaltseinkommen, und oft wird das System über Steuern finanziert», erklärt er.

Egalitärer Zugang

Der Vorteil des schweizerischen Systems besteht darin, dass alle Menschen den gleichen Zugang zu medizinischer Versorgung haben. «Eine arme Person, die ein neurologisches Problem hat, wird denselben Neurologen aufsuchen wie eine Person aus einem bürgerlichen Umfeld, und es ist genauso einfach, einen Termin zu bekommen», hält De Pietro fest.

Beitrag der Tagesschau des Schweizer Fernsehens SRF über das kürzliche Nein des Schweizer Parlaments zu höheren Steuerabzügen für Krankenkassenprämien:

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Er weist auch darauf hin, dass die Deckung durch die obligatorischen Krankenversicherungen im internationalen Vergleich breit ist. Sie decken 44,3% der Gesundheitskosten und liegt damit über dem OECD-Durchschnitt.

«Wir haben ein luxuriöses System», bilanziert Carlo De Pietro. Er weist jedoch auf die Schwierigkeit hin, ein solches System zu finanzieren, indem Reiche und Ärmere zu gleichen Teilen zur Kasse gebeten werden. «Das ist, als würde man die Armen zwingen, sich ein Luxusauto zu kaufen», so der Experte.

Eine zu hohe Rechnung für viele

Als Resultat davon kann ein Grossteil der Bevölkerung die Prämien für die obligatorische Krankenversicherung nur schwer oder gar nicht bezahlen. Emilie Rosenstein, Leiterin des Observatoriums für Armut an der Hochschule für Sozialarbeit und Gesundheit in Lausanne, stellt fest: «Die Krankenversicherungsprämien gehören zu den Rechnungen, die das Budget der Haushalte immer mehr belasten.»

Die öffentliche Hand muss somit mehr als einem Viertel der Bevölkerung unter die Arme greifen. Dies geschieht mit Prämienverbilligungen in Form von Zuschüssen. Die Quote der Empfänger:innen dieser Beihilfen bleibt relativ stabil und schwankt je nach Jahr zwischen 25% und 30%.

Angesichts der explodierenden Gesundheitskosten müssen Bund und Kantone jedoch immer mehr Geld ausgeben, um die Prämienverbilligungen zu finanzieren.

Die von der öffentlichen Hand gezahlten Beträge sind in den letzten 15 Jahren um fast 70% gestiegen, von rund 3,2 Milliarden Franken im Jahr 2005 auf über 5,4 Milliarden Franken 2021, wie das Bundesamt für Gesundheit ausweist (siehe Grafik unten).

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Bisher sind die Zuschüsse eines der wenigen Instrumente, um die Versicherten zu entlasten. Ein anderes Instrument betrifft nur solche Personen, die Ergänzungsleistungen beziehen. Das sind staatliche Hilfen zur Ergänzung unzureichender Renten oder Invalidenrenten.

«Die Zuschüsse sind somit keine Ausnahme, sondern Teil des Systems», sagt Carlo De Pietro. Und da die Gesundheitsausgaben viel schneller steigen als die Löhne, dürfte die Zahl der Menschen in Not in Zukunft noch weiter zunehmen, warnt er.

Die Zuschüsse werden vom Bund und den Kantonen finanziert. Die Kantone können den Kreis der Personen, die Anspruch auf diese Prämienverbilligungen haben, sowie deren Höhe selbst festlegen. So gibt es grosse Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen des Landes.

In den Kantonen Waadt und Genf beispielsweise profitieren 36% der Bevölkerung von Prämienverbilligungen, wie eine kürzlich durchgeführte Untersuchung des Westschweizer Fernsehens RTS ergab. Damit werden also die einkommensschwächsten Haushalte, aber auch ein Teil der Mittelschicht unterstützt

Kantone, die mit finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert sind, neigen jedoch dazu, die Budgets für die Prämienverbilligung zu kürzen. So erhielten im Jura 1997 zwei Fünftel der Versicherten, also 40%, eine Prämienverbilligung, während es heute noch 28% sind.

Zuschüsse und Leistungen als Stellschrauben

«Die eigentliche Lösung, aber auch die schwierigste, wäre es, das Wachstum der Gesundheitskosten einzudämmen», stellt Carlo De Pietro fest. Die Preise steigen in der Tat fast unaufhaltsam. «Der technologische Fortschritt und die Alterung der Bevölkerung sind Faktoren, welche die Gesundheitskosten in die Höhe treiben. Und diese sind schwer zu beeinflussen.»

Der Ökonom nennt zwei weitere Optionen, um das System zu verbessern: «Die eine besteht darin, den Anteil der Kosten, der direkt von den öffentlichen Systemen getragen wird, über Steuern zu erhöhen. Die andere ist, das System nicht zu ändern, sondern mehr Zuschüsse zu gewähren, um Menschen zu helfen, die ihre Krankenversicherung nicht bezahlen können.»

Diesen Weg möchte die linke Seite des politischen Spektrums gehen. Die Sozialdemokratische Partei hat eine Initiative lanciert, die verlangt, dass niemand mehr als zehn Prozent seines verfügbaren Einkommens für die Krankenversicherung bezahlen muss. Um dies zu erreichen, sieht das Begehren vor, dass der Bund und die Kantone einen höheren Beitrag zu Prämienverbilligungen leisten.

Die Rechte plädiert ihrerseits eher für einen Leistungsabbau. Die FDP hat im Mai vorgeschlagen, eine «Low-Cost»-Versicherung einzuführen. Die Idee wäre, das derzeitige System mit fester Prämie, das den Versicherten das Recht gibt, «alles zu konsumieren», durch ein Menü «à la carte» zu ersetzen.

Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi

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