Portugiesen in der Schweiz beunruhigt
Das Ja einer knappen Mehrheit der Schweizer Stimmbürger von vergangenem Sonntag zur Einführung von Kontingenten für Zuwanderer hat unter Portugiesen in der Schweiz Unsicherheit ausgelöst. Bei ihnen taucht der Ungeist aus Zeiten des Saisonnier-Statuts wieder auf.
Die Schweizer Regierung will bis im Juni einen Plan vorlegen, wie die Volksinitiative «gegen Masseneinwanderung» umgesetzt werden soll. Dies hat der Bundesrat am Mittwoch angekündigt. Als erstes soll das Justizdepartement einen Gesetzesentwurf ausarbeiten.
Gemäss Initiative müssen die Kontingente in spätestens drei Jahren Realität sein. Die Regierung will zügig handeln, um einer möglichen Lawine von Retorsionsmassnahmen seitens Brüssel zuvorzukommen.
Der Portugiese Manuel Beja lebt seit langem in der Schweiz. Als ehemaliger Gewerkschafter kennt er den Status der Saisonniers in der Schweiz noch bestens, also die Begrenzung der Einwanderung mittels Kontingenten für die ausländischen Arbeitskräfte. Nach dem Willen des Schweizer Stimmvolks sollen just diese Kontingente nun eine Auferstehung erleben.
«Das Saisonnier-Statut, das 60 Jahre lang in Kraft war, war für die ausländischen Arbeitskräfte sehr diskriminierend. Die ausländischen Kader der grossen Unternehmen waren immer geschützt, aber für die anderen war es sehr schwierig», sagt Beja.
Mehr
Cartoonisten schauen genau hin
Rückfall
Am schwersten wog, dass den Saisonniers der Nachzug ihrer Familien in die Schweiz verwehrt blieb. Die Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung war in der Regel auf neun Monate beschränkt. Für den Rest des Jahres kehrten die Arbeiter in die Heimat zu ihren Familien zurück. Erst nach dem vierten Aufenthalt als Saisonnier und dem Erhalt der Aufenthaltsbewilligung B konnten sie Frau und Kinder in die Schweiz nachziehen lassen.
«Wir werden sehen, wie das Abstimmungsresultat umgesetzt wird. Aber ich fürchte, man will den Familiennachzug wieder erschweren», sagt Antonio Da Cunha, Präsident des Dachverbandes der portugiesischen Organisationen in der Schweiz. Er hält aber fest, dass der Verband noch nicht offiziell Stellung genommen hat.
Ein weiteres Problem, das wieder verstärkt befürchtet wird, sind ausländische Schwarzarbeiter, die, weil ohne jeglichen rechtlichen Schutz, der Ausbeutung ausgesetzt sind. «Ich erinnere mich an Landsleute, die in der Stunde zwei oder drei Franken verdient hatten und den Mut aufbrachten, ihren Chef zu denunzieren», so Antonio Da Cunha.
Portugals Aussenminister Rui Machete hat sich am Dienstag über das «beunruhigende Abstimmungsergebnis» geäussert.
«Die Schweiz ist seit langem eine hoch geschätzte Partnerin, aber dieses Verdikt ist eine herbe Niederlage in den Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz, weil sie den freien Verkehr von Personen, Kapital, Waren und Dienstleistungen in Frage stellt», so Machete.
Sein Land werde die Situation «mit grosser Sorge» verfolgen, dies auch aufgrund der wichtigen Gemeinde von portugiesischen Bürgern in der Schweiz.
Paradox
Der Professor am Institut für Geographie und Nachhaltigkeit an der Universität Lausanne widerspricht Argumenten der siegreichen Initiativ-Befürworter. Etwa dem, dass jene, die vom freien Personenverkehr profitierten, die Arbeitsplätze in der Schweiz besetzten. Da Cunha: «Mit 3,5% hat die Schweiz eine der tiefsten Arbeitslosenquoten Europas. Das ideale Kontingent ist folglich der freie Personenverkehr.»
Nicht gelten lässt er auch das Argument, dass die Zuwanderer Druck auf den Verkehr und den Immobiliensektor ausübten. «Die öffentlichen Verkehrsmittel in der Schweiz sind pünktlich und gehören zu den besten der Welt. Was die Wohnungsknappheit in den grossen Städten angeht, hat sich diese vielleicht verschärft, aber sie existiert seit mindestens 15 Jahren.»
Paradox findet Antonio Da Cunha, dass ausgerechnet jene Regionen mit einem höheren Ausländeranteil die Initiative abgelehnt hätten, nämlich die Westschweiz und die grossen Zentren. Wie erklärt er sich dies? «Es gibt diffuse Ängste gegenüber Europa, möglicherweise aufgrund der Globalisierung. Gewisse Kreise profitieren von dieser Unsicherheit, indem sie die Realität umkehren – das ist das Beunruhigende an der ganzen Sache», lautet seine Analyse.
Es ist aber bekannt, dass auch ein Teil der Portugiesen, die das Schweizer Stimmrecht besitzen, für die Begrenzung der Zuwanderung votiert hatten. Manuel Beja erachtet es als «egoistisch, gegen die eigenen Landsleute zu stimmen». Er kann überhaupt nicht goutieren, wenn «Leute, die heute privilegiert sind, vergessen haben, dass andere ein Leben lang für ein würdigeres Dasein gekämpft hatten».
Auch Da Cunha hat in seinem portugiesischen Umfeld Stimmen gehört, die sich für Kontingente ausgesprochen hatten. Er glaubt, dass Menschen, wenn sie etwas erreicht hätten, sich vor der Konkurrenz der anderen schützen möchten, damit diese ihnen die erzielten Vorteile nicht streitig machen könnten. Das Phänomen könne aber auch als Zeichen von Integration gedeutet werden, sagt der Professor.
Am Scheideweg
«Der freie Personenverkehr bringt Vorteile für alle. Aber jetzt wird die Situation komplizierter werden», prophezeit Beja. Zwar nimmt er eine «gewisse Unzufriedenheit» wahr, dennoch glaubt er, dass die Schweiz und die EU einmal mehr eine einvernehmliche Lösung finden werden.
«Wir sind an einem Scheideweg angelangt», sagt der ehemalige Gewerkschafter mit Blick auf die dreijährige Frist für eine Umsetzung. «Wichtig aber ist jetzt vor allem, auf die Stimmen der ausländischen Migrantengruppen in der Schweiz zu hören.»
Nach Menschen aus Italien und Deutschland stellen die Portugiesen die drittgrösste Ausländergruppe in der Schweiz.
Die Ersten kamen Mitte des letzten Jahrhunderts. Es handelte sich um Studenten und Intellektuelle, die vor der Diktatur Salazar geflüchtet waren und sich vorwiegend im Raum Genf niederliessen.
Eine erste grosse Zuwanderung von Portugiesen gab es Mitte der 1980er-Jahre aufgrund des Saisonnier-Statuts, der nur temporäre Einsätze erlaubte. Die meisten arbeiteten in der Gastronomie und in der Landwirtschaft.
Aufgrund des freien Personenverkehrs können Portugiesen als Bürger der EU ohne Schranken in die Schweiz kommen und hier arbeiten.
Ihre Zahl hat laut Bundesamt für Statistik (BFS) in den letzten Jahren stark zugenommen, von 196’800 im Jahr 2008 auf 237’900 im Jahr 2012.
Übertragung aus dem Portugiesischen: Olivier Pauchard)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch