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«Sabotage überall»: Am Ursprungsort des globalen Anarchismus

Die Eissporthalle von St-Imier, wo Anarchy 2023 stattfand.
Die anarchistische Buchmesse in der Eissporthalle von St-Imier war nur ein kleiner Teil des 150. Jubiläums der anarchistischen Internationalen in der Kleinstadt, aus der Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider stammt. Thomas Kern/swissinfo.ch

Im 19. Jahrhundert gründete sich die anarchistische Internationale in einem Schweizer Tal. Tausende Anarchist:innen pilgerten zum Jubiläum in die Kleinstadt St. Imier. Ihre Positionen, etwa zur Ukraine, gehen weit auseinander. Eine Reportage.

An eine Hausecke im Zentrum von St-Imier hat jemand ein Graffiti gesprayt. «Sabotage überall» steht da auf Französisch, darunter ein Anarchie-Symbol. Jemand anderes hat ein selbstgeschriebenes Plakat auf Englisch darüber geklebt: «Bitte respektiert die Anwohnenden und ihre Häuser».

Das fasst die Spannweite des Anarchismuskongresses recht gut zusammen. 5000 Besucher:innen von allen Kontinenten sind für das Jubiläum «Anarchy 2023» nach St-Imier gereist. Manche als Schaulustige, die meisten aus einer anarchistischen Überzeugung. Viele von ihnen haben campiert. Manche sind bunt, die meisten schwarz gekleidet.

Die selbstorganisierte Küche hat während fünf Tagen zehntausende Mahlzeiten gekocht, auch der Abwasch hat sich auf Freiwilligenarbeit gestützt.

Sabotage Partout mit Anarchie-Zeichen.
Das Graffiti an einer Hausecke, wo viele Kongressteilnehmer:innen unterwegs zwischen Camping, Workshops und Buchmesse vorbeigekommen sind. Thomas Kern/swissinfo.ch

Was wollen Anarchist:innen?

Anarchist:innen lehnen die Macht der Kirche ab, Staaten, den Kapitalismus und hoffen auf eine sozialistische Gesellschaft ohne Machtbeziehungen.

Doch dabei ist vieles offen: Wie pragmatisch soll man sich in der Gesellschaft bewegen? Ist man für eine absolute direkte Demokratie oder lehnt man die Demokratie als «Herrschaftssystem» ab?

Der Anarchismus hat viele Texte und ikonische Vertreter:innen, doch anders als beispielsweise der Marxismus will sich der Anarchismus eben genau nicht an einem Werk orientieren und abarbeiten. Dies ist Teil der Ortsgeschichte von St-Imier.

1864 verband sich die damalige Arbeiterbewegung in London zur ersten «Internationalen». Doch bald gab es Konflikte, vor allem wegen der zunehmenden Befugnisse, die der von Karl Marx dominierte Generalrat erlangte.

Kritik an Karl Marx aus dem Jura

1871 verfassten anarchistische Uhrmacher:innen aus dem Tal von St. Imier ein Rundschreiben: «Es ist absolut unmöglich, dass ein Mensch, der Macht über seine Mitmenschen verfügt, ein moralischer Mensch bleibt (…).» Dieser Machtmensch, das war den Empfänger:innen klar, ist niemand Geringeres als Karl Marx.

An ihrem Kongress 1872 schloss die erste Internationale dann mehrere bekannte Anarchisten aus, darunter Michail Bakunin. In St. Imier gründete sich kurz darauf an einem Gegenkongress eine eigene, anarchistische Internationale – natürlich mit Beteiligung von Bakunin.

Bakunin und Kropotkin im Jura

Die lokale anarchistische Bewegung entfaltete sich weiter und wirkte in die Welt hinaus. So schrieb Pjotr Kropotkin, der später als anarchistischer Revolutionär und Autor Bedeutung erlangte, in seinen Memoiren: «Als ich die Berge nach gut einer Woche Aufenthalt bei den Uhrmachern wieder hinter mir liess, standen meine sozialistischen Ansichten fest: Ich war ein Anarchist.»

«Ein gut zehnjähriger (langer) Sommer der Anarchie» sei in St-Imier auf den «Frühling der Arbeiterbewegung 1871» gefolgt, so der Historiker Florian Eitel in seiner Dissertation «Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz».

In St-Imier, heute eine Kleinstadt mit 5000 Einwohner:innen, hat weder der Gemeindepräsident noch das Gewerbe etwas gegen die tausenden anarchistischen Gäst:innen. Die lokale Bevölkerung ist nicht gegen den Jubiläumskongress, der wegen Corona erst 2023 statt 2022 stattfindet. Im Gegenteil.

Busstation mit Aufschrift Bakunin
Dem russischen Anarchisten Michail Bakunin ist in St-Imier heute eine Busstation gewidmet. Thomas Kern/swissinfo.ch

«Super» findet ihn die Verkäuferin in der Bäckerei. Weil die vielen Anarchist:innen Brötchen kaufen? «Nicht nur deshalb. Die Leute sind sehr freundlich, es gibt wenig Lärm.» 

Inhaltlich sieht sie die Besucher:innen differenziert: «Ein paar ihrer Ideen finde ich gut, aber konsequent so leben, kann man gar nicht. Man hat mal einen Chef. Das gehört zum Leben dazu.»

Getreu der Ideologie kam auch das Programm von «Anarchy 2023» ohne Autoritäten aus: Online konnten alle, die wollten, Vorschläge fürs Kongressprogramm in ein Formular eintragen.

Wiese von St-Imier mit Zelten
Die meisten, die mehrere Tage am Anarchismuskongress waren, campierten im Zelt auf einer Wiese von St-Imier. Thomas Kern/swissinfo.ch

Das Resultat war ein langes Programm mit breitem Angebot: anarchistisches Jodeln, Siebdruck, Konzerte und viele, viele Diskussionen. Im Kontrast zum epischen Programm war der Medienguide für Journalist:innen angenehm kurz. Doch die meisten wollen anonym bleiben und während vielen Veranstaltungen sind Fotos untersagt.

Anarchistische Geschichtsschreibung

«Good afternoon comrades», begrüssen die zwei Workshopleiter:innen zwischen Landschaftsmalereien im vollen Gemeindesaal von St-Imier.

Viele sitzen auf dem Boden. Die Leiter:innen gehören zum weltweiten Kollektiv «Crimethinc», ihr Englisch tönt Amerikanisch. Ob sie ausgebildete Historiker:innen sind, bleibt offen. Deutlich wird ihre Geschichtsbegeisterung.

Ein leerer Eingang des Gemeindehaus
Viele der Workshops und Podien an «Anarchy 2023» fanden im Gemeindehaus von St-Imier statt. Thomas Kern/swissinfo.ch

Die Motionen des anarchistischen Kongresses 1872 in St. Imier seien «bis heute fucking relevant», sagt eine der beiden. Anarchistische Geschichtsschreibung sei wichtig für Anarchist:innen – um sich als Teil einer traditionsreichen Bewegung zu verstehen.

Der erste trans Mann, der eine Geschlechtsangleichung vollzog, sei anarchistisch geprägt gewesen. Viele Entwicklungen der Konsumgesellschaft – von Fahrradverleihsystemen bis zu Twitter – gingen auf anarchistische Ideen zurück, die der «Kapitalismus appropriiert» habe.

Andererseits sei anarchistische Geschichtsschreibung auch deshalb wichtig, weil Historiker:innen «die bestehende Welt als einzig Mögliche» zeigen würden.

Bakunin an der Barrikade

Das Gegenangebot von Crimethinc wirkt angestaubter als viele Ansätze, mit denen die universitäre Geschichtswissenschaft heute arbeitet: Sie haben eine Anekdote aus dem Leben von Michail Bakunin einem Faktencheck unterzogen.

Bakunin habe 1849 während einem Strassenkampf in Dresden wertvolle Kunst auf der Barrikade anbringen lassen, in der Annahme, dass die preussischen Soldaten die Kunst schonen würden, so die Anekdote.

Crimethinc listet Belege auf, weshalb das nicht passiert sei. Ihnen geht es um den Nachweis, dass Bakunin Kunst weder abgelehnt noch instrumentalisiert hat. Die Relevanz davon bleibt zweifelhaft. Der Fokus auf Bakunin, einem «grossen Mann», durch ein Kollektiv, das anonym agiert, hat zudem etwas Bemerkenswertes.

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Bakunin und die Uhrmacher

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht 1872 rief die Juraföderation, eine Arbeiterorganisation, in St-Imier (Berner Jura) die Delegierten der antiautoritären Gruppierungen zusammen, die sich dem Zentralismus der Ersten Internationale widersetzten. Die ‹Antiautoritäre Internationale› wurde gegründet. Vorher war es Karl Marx gelungen, Michail Bakunin und andere Anarchisten aus der Ersten Internationalen auszuschliessen. swissinfo.ch: Wie wichtig war der Kongress von Saint-Imier für die…

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Anarchistische Buchmesse unter Eishockey-Trikots

In der Eissporthalle hängen die Trikots der lokalen Hockeymannschaft über den Ständen der anarchistischen Buchmesse. In einer Sofaecke lesen manche in Büchern. Daneben falten andere frisch gedruckte Pamphlete. Philosophische Klassiker ebenso wie selbstgedruckte Broschüren, zum Beispiel gegen die Psychiatrie oder als «Anarchistische Beiträge zur Überwindung der Demokratie» gibt es auf Russisch, Englisch oder Deutsch.

Vieles, was hier angeboten wird, widerspricht sich. Einiges führt zu Konflikten zwischen Kongressteilnehmer:innen, etwa ein Buch mit Vorwort des französischen Philosophen Michel Onfray, der sich vom einstigen Linksradikalen zum Rechtsaussen entwickelt hat.

Anarchismus und der Krieg in der Ukraine

Ein Anarchist aus Belarus sammelt Spenden zur Solidarität mit Anarchist:innen in der Ukraine. «Bis der Kreml niederbrennt», heisst es auf Stickern – und in der Broschüre daneben wird betont, dass Anarchist:innen, die auf Seiten der Ukraine kämpfen, «Widerstand gegen eine imperialistische Invasion» leisten.

An einer Podiumsdiskussion im grossen Saal des Gemeindehaus schildert eine Ukrainerin, wie wenig die theoretische Auseinandersetzung über die Ablehnung von Nation und Staat weiterhilft, wenn man in einem Land lebt, das angegriffen wird.

Eine Anarchistin aus Belarus berichtet dort, wie sich die anarchistische Bewegung im Land an westlichen Texten orientiert und diese übersetzt habe. Sie habe aber erlebt, wie westliche Anarchist:innen solche aus Belarus unangenehm belehrt hätten. Darüber, was es bedeutet in Belarus zu leben und zu handeln.

Falschinformationen zu Selenski

Die Kehrseite eines offenen Programms ohne Einschränkungen hat man an einem Workshop zu Antimilitarismus und dem Krieg in der Ukraine erleben können: Ein älterer Anarchist aus Deutschland berichtet einem mehrheitlich deutschen Publikum aus seinem Manuskript, das er gerne als Buch verlegen würde.

Er führt aus, dass er Waffenlieferungen an die Ukraine ablehne. Dabei sagt er unter anderem, dass es in der Ukraine Bücherverbrennungen «in der Masse grösser als 1933» durch das deutsche Naziregime gebe. Ebenfalls sagt er, der ukrainische Präsident Selenski bereichere sich an westlichen Waffenlieferungen. Behauptungen wie diese gehen auf Falschinformationen in den Sozialen Medien und russische Propaganda zurück.

Wegweiser für Anarchist:innen
Die Infrastruktur war beeindruckend gut organisiert an Anarchy 2023. Thomas Kern/swissinfo.ch

Doch von den etwa 30 Menschen im Publikum kommen kaum Zweifel. Auch nicht, als er behauptet, der Krieg habe nicht mit der russischen Invasion im Februar 2022 begonnen, sondern mit «gigantischen Nato-Manövern» davor. Die russische Annexion der Krim und den seit 2014 andauernden Krieg in den östlichen Provinzen hat er ausgeblendet.

Das wäre in einem kuratierten, moderierten Programm undenkbar. Aber das würde auch mehr Autorität bedingen, als den meisten Anarchist:innen lieb ist.

Über dem Graffiti «Sabotage überall» hängt später am Tag ein neues Plakat. Dieses bittet um Verzicht auf Graffitis – wegen der bevorstehenden Bussgelder für die Trägerschaft. Jemand hat darunter mit Filzstift einen Witz über Bussen gekritzelt.

Editiert von Marc Leutenegger.

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