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Die digitale Demokratie der Schweiz auf dem Prüfstand

Leute an einem langen Tisch mit vielen Laptops vor sich
Die direkte Demokratie funktioniert in der Schweiz weitgehend analog. Die Digitalisierung berge grosses Potenzial für die Meinungsbildung und mehr Inklusion, so das Fazit einer grossangelegten Studie (Bild: Kongress der Piratenpartei Deutschlands 2011 in Heidenheim). Keystone / Daniel Maurer

Die Digitalisierung der Politik ist in aller Leute Mund. Es wird Zeit, geäusserte Hoffnungen und Ängste einer Prüfung zu unterziehen. Das leistet eine Serie von Studien, die diese Woche veröffentlicht wurden. Die Übersicht.

2018 legten Daniel Graf und Maximilian Stern, zwei herausragende Aktivisten aus der Schweizer Tech- und Polit-Szene, eine umfassende Agenda der digitalen Demokratie in der Schweiz in Buchform auf den Tisch. Was folgte, glich dem Auf und Ab im Zyklus der Tech-Firma Gartner: Zuerst der Hype mit inflationären Erwartungen, dann der Absturz ins Tal der Tränen und Desillusionierungen, dann in der dritten Phase die produktive Umsetzung.

Typisch dafür war die versuchte, rasche Einführung von E-Voting: Am Anfang weit verbreitet gutgeheissen, musste der Testbetrieb noch vor der Wahlen 2019 gestoppt werden. Gegenwärtig macht sich die Schweiz daran, eine Neuauflage der elektronischen Stimmabgabe mit veränderten Rahmenbedingungen zu starten.

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Worum es bei der digitalen Demokratie geht

TA-Swiss ist eine Stiftung, die darauf spezialisiert ist, Chancen und Risiken neuer Technologien für die Gesellschaft zu evaluieren. Diese Woche hat sie drei Berichte zum Thema veröffentlicht. Erstellt wurden diese von einem Netzwerk aus dem Forschungsinstitut gfs.bern, dem Dachverband der Jugendparlamente und Dezentrum, einem neuen Thinktank, der sich auf Szenarien zur digitalen Transformation konzentriert.

Ausgesprochen systematisch geht Urs Bieri, Co-Leiter von gfs.bern, in einem neuen Buch zur Digitalisierung der Schweizer PolitikExterner Link vor. Seine Fragestellung: Was passiert, wenn neue Technologie auf politische Prozesse namentlich der Willens- und Meinungsbildung stossen? Sein Fazit: «Insgesamt sind die Wirkungskraft und noch viel mehr das Wirkungspotenzial von digitalen Instrumenten gegeben, aber nicht zu überzeichnen.»

Basis der informativen Ausführungen sind unter anderem Gutachten von Nadia Braun Binder, Juristin an der Uni Basel, und Sébastien Salerno, Kommunikationswissenschaftler an der Uni Genf.

Die neue Technologie und ihre Tools

Wesentliche Tools der digitalen Demokratie sieht der Politikwissenschafter Urs Bieri in der ausdifferenzierten Online-Kommunikation.  Beispielhaft geht es da um folgende Technologien:

  • Social Media, also Kampagnen und Community-Aufbau auf sozialen Netzwerken.
  • E-Partizipation, beispielsweise Unterschriftensammlung übers Internet.
  • Social Bots, digitale Werkzeuge, die automatisiert mit Nutzern interagieren, etwa um Botschaften zu verbreiten oder Nutzer an Botschaften zu binden.
  • Microtargeting, die passgenaue, personalisierte Kampagnenführung in sozialen Medien aufgrund von verfeinerten Kriterien wie Wohnort, Alter oder Geschlecht.

Als Mix aus allem sieht der Forscher die Entstehung von Plattform-Akteuren. Das Movimente Cinque Stelle in Italien, aber auch die Piratenparteien vielen Ländern stehen dafür. In der Schweiz zählen Bewegungen wie Operation Libero oder Mass-Voll dazu.

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Dabei dreht sich alles um eine frei zugängliche Plattform für den politischen Austausch, die digitale Organisation der Sympathisantinnen und Sympathisanten sowie die Kampagnenarbeit in der virtuellen Öffentlichkeit.

O-Ton Urs Bieri: «Sie stellen eine direkte Kommunikation zwischen Politikerinnen und Politikern sowie ihrer Basis sicher.» Doch seien es nicht einfach neue Kanäle für alte Politik. Vielmehr würden Plattform-Akteure Organisationsformen, Anhängerschaften und politische Aktionen neu erfinden.

Die Ausbreitung der digitalen Politik in der Schweiz

Wenn das Potenzial an Wirkungen weltweit bereits hoch ist, die nachweislichen Effekte in der Schweiz aber beschränkt sind, hat das einen wesentlichen Grund: Die Tools werden gerade in der Politik vor allem von Innovatoren und frühen Nachahmern, den so genannten Early Adaptors, genutzt, wie es die Diffusionsforschung nennt. Der Mainstream ist – anders als etwa den USA oder Teilen Asiens – noch nicht involviert. Doch dürfte das noch kommen.

Entsprechend ist die politische Kommunikation in der Schweiz vorerst hybrid. Geprägt wird sie mehrheitlich von klassischem Journalismus, Service-Public-Medien und Behördeninformation. Minderheitlich ist der Wandel ganz oder teilweise vollzogen.

Die alte Basis der Öffentlichkeit ist angesichts der gegenwärtigen Transformation arg gefährdet. Je mehr das der Fall ist oder sein wird, umso grösser wird das Potential für die digitale politische Kommunikation.

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Der neueste Studienbericht macht auch Empfehlungen wie:

  • . Die öffentliche Hand soll qualifiziert irreführende Informationen von Privatpersonen konsequent richtigstellen.
  • . Sie soll die systematische und öffentliche sichtbare Prüfung politischer Fakten fördern.
  • . Rechtswidrige Inhalte im Netz sollen gelöscht werden können.
  • . Die Bevölkerung soll mittels Sensibilisierungs-Kampagnen über vorhandene Risiken im sozialmedialen Raum aufgeklärt werden.
  • . Transparenzbestimmungen in der Politik müssen auch im digitalen Raum umgesetzt werden.
  • . Die Behörden sollen eine sicheres E-Voting und E-Partizipation mit möglichst wenig Zugangshürden anbieten.
  • . Ein permanentes Monitoring zur Digitalisierung der Politik soll erstellt werden.

Chancen der digitalen Demokratie

Das neue Buch Bieris bettet die technologischen Trends in wesentliche Eigenheiten des politischen Systems ein. Konsenssuche und Polarisierung sind die wichtigsten Stichworte.

Die grössten Chancen orten die Fachleute für den politischen Diskurs. Vor allem Social Media bieten dank leicht zugänglicher Information mit niederschwelligen Angeboten ein grosses Potenzial für herrschafts- und barrierefreien Zugang zu Denkanstössen. Bewegungen bekommen grössere Spielräume und dynamisieren den vorherrschenden, institutionalisierten Diskurs.

Neue Bürger:innen, aber auch Menschen ohne politische Rechte werden so aktiviert. Medienschaffende, Fachleute in der Wissenschaft und Praxisexpert:innen können sich direkt einbringen. Und die digitale Partizipation erleichtert es, bestimmte Zielgruppen anzusprechen.

Die Wirkung auf die Konkordanz-Demokratie wird im Buch positiv gedeutet. Denn mehr Gruppen denn je werden so an der Konsenssuche beteiligt, was demokratisiert.

Risiken für Politik und Staat

Dem stehen bereits mehrfach diskutierte Risiken gegenüber. Fehlendes Gate-Keeping der Tech-Plattformen angesichts multiplizierter Kommunikatoren steht am Anfang. Dazu zählen das Aufkommen von Fehlinformationen oder Echokammern. Vor allem ist die digitale Kommunikation mindestens heute nicht in der Lage, ein repräsentatives Abbild der Standpunkte zu verschaffen. Die Polarisierung wird verstärkt, Misstrauen und Hass nehmen zu.

Aus Sicht der Institutionen und vorherrschenden Akteure bedeutet die Aktivierung der Gesellschaft auch Stress. Öffentliche Meinung wird flatterhaft, Manipulationen werden häufiger und bisher unbekannte Sicherheitsprobleme treten auf. Das kann auch abschrecken, sich für Politik einzusetzen.

Zudem: Behördliche Informationsaufgaben werden sich nie ausschliesslich auf die digitale Demokratie stützen können. Vielmehr braucht es auch ein Set an neuen Regeln, um Auswüchse zu bekämpfen (siehe Kasten Empfehlungen).

Ausgewogene Bilanz unterwegs

Nicht überraschend bleibt auch diese neuste Zwischenbilanz zur digitalen Demokratie zwiespältig. Trotzdem überwiegt die gelassene Zuversicht: Die Schweiz hat viel Erfahrungen bei der juristischen Regelung der politischen Kommunikation von Behörden oder Privaten. Zudem hätten die Bürger:innen ein feines Sensorium entwickelt, um Manipulationen oder Extremismus zu erkennen.

In den abschliessenden Thesen steht unter anderem:

«Digitalisierung gibt einerseits finanzschwachen Gruppen eine Stimme in der Schweizer Politik. Andererseits verändert diese Zersplitterung den erfolgreichen Schweizer Korporatismus.»

Oder: «Strengere Regulierung der Digitalisierung in der Schweizer Politik stärkt die freie Meinungsbildung im Vorfeld von Abstimmungen, schränkt aber die Meinungsfreiheit ein.»

Der Vorteil der neuen Studie besteht in der ausgewogenen Gesamtsicht. Leere Versprechungen des Marketings werden entlarvt, unbegründete Apokalypsen der Kritiker:innen bleiben weitgehend aus.

Flapsig ist in den Schlussfolgerungen ein Satz: «Digitale Demokratie ist, was wir daraus machen. Nur ist es dann vielleicht plötzlich keine Demokratie mehr.» Das ist zu wichtig, um es schleierhaft auszudrücken.

Diese Kritik gilt auch für das kulturkritische Resüme von Ex-Bundesrat Moritz Leuenberger, vormals Schweizer Medienminister und Pionier der Twitter-Vermittlung von Politik, an der Studienpräsentation: «Politik braucht Fantasie, die nicht durch die Interessen der Tech-Giganten auf Mäh! und Bäh! reduziert werden darf.»

Urs Bieri bleibt sachlich: «Mir ist wichtig, dass die Gesellschaft eine Diskussion führt, was sie mit der digitalen Demokratie will und was nicht. Dafür haben wir die Gesamtschau gemacht!»

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