Was Meinungsfreiheit bedeutet – und was nicht
Kritikerinnen und Kritiker der Corona-Schutzmassnahmen sehen die Meinungsfreiheit in Gefahr. Wie aber ist Meinungsfreiheit definiert? Expertinnen und ein Experte geben Antworten.
«Die Meinungsfreiheit schützt ein Grundbedürfnis der Menschen», sagt Maya Hertig, Professorin für Schweizer und europäisches Verfassungsrecht an der Universität Genf. Die Idee der Meinungsfreiheit basiert auf der aufklärerischen Vorstellung, dass wir alle denkende, vernünftige Wesen sind, die ihre Meinung im Dialog bilden.
«Für die Demokratie ist die Meinungsfreiheit und auch die Informationsfreiheit wesentlich», sagt Hertig. Das Gleiche gelte für die Forschung: «Fortschritt ist nur möglich, wenn die vorherrschende Meinung in Frage gestellt werden kann.»
SWI #Meinungsfreiheit-Serie
Im Prinzip sollte alles glasklar sein. Sowohl in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) als auch im UNO-Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1966) heisst es in Artikel 19: «Jede und jeder hat das Recht auf freie Meinungsäusserung; dieses Recht schliesst die Freiheit ein, ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut jeder Art zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten, sei es mündlich, schriftlich oder in gedruckter Form, durch Kunst oder durch ein anderes Medium seiner Wahl.»
In Europa bestätigt die Europäische Menschenrechts-Konvention (1950) die Meinungsfreiheit als rechtsverbindliches Recht (Artikel 10). Die Schweiz verankert diese Grundfreiheit in Artikel 16 ihrer Verfassung von 1999.
In der Praxis bleibt jedoch vieles umstritten. Regierungen auf der ganzen Welt schützen das Recht auf freie Meinungsäusserung nicht, sondern unterminieren es zunehmend. In anderen Teilen der Welt nutzen Einzelne und Gruppen den Begriff «Meinungsfreiheit», um diskriminierende und hasserfüllte Äusserungen zu rechtfertigen. Doch obwohl sie ein universelles Recht ist, ist die Meinungsfreiheit kein absolutes Recht. Sie zu gewährleisten und anzuwenden, ist immer eine Gratwanderung.
In einer neuen Serie befasst sich SWI swissinfo.ch mit diesen verschiedenen Aspekten, Herausforderungen, Meinungen und Entwicklungen rund um die Meinungsfreiheit – sowohl in der Schweiz als auch weltweit.
Wir bieten eine Plattform für Bürgerinnen und Bürger, sich zum Thema zu äussern, bieten Analysen von renommierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und beleuchten Entwicklungen auf lokaler und globaler Ebene. Und natürlich sind die Leserinnen und Leser eingeladen, sich noch in diesem Frühjahr an der Diskussion zu beteiligen und ihre Stimme zu erheben.
Deshalb ist die Meinungsfreiheit ein Menschenrecht. Sie ist unter anderem in Artikel 10 der europäischen Menschenrechtskonvention und in Artikel 19 des UNO-Paktes über bürgerliche und politische Rechte verankert.
In der Schweiz wurde das Recht auf freie Meinungsäusserung erst in der Verfassung von 1999 festgeschrieben – aber bereits seit 1959 als ungeschriebenes Grundrecht anerkanntExterner Link.
Katrin Schregenberger ist leitende Redaktorin von higgs.chExterner Link, dem ersten unabhängigen Online-Magazin für Wissen in der Schweiz. Davor hatte sie u. a. sechs Jahre für die Neue Zürcher Zeitung geschrieben und war als Reporterin unterwegs, so auch in Myanmar.
Laut der Verfassungsrechtlerin Hertig schützt die Meinungsfreiheit sowohl Äusserungen von überprüfbaren Tatsachen als auch von subjektiven Meinungen und Emotionen – zum Beispiel in der Kunst – und symbolische Handlungen – zum Beispiel in Form eines Sitzstreiks. «Geschützt ist der ganze Kommunikationsprozess, vom Verbreiten bis zum Empfangen», sagt sie. Das heisst: Grundsätzlich darf niemand vom Staat daran gehindert werden, seine Meinung zu äussern.
Keine absolute Freiheit
«Das Recht, eine Meinung zu haben, ist nicht einschränkbar», erklärt sie. So ist es also nicht strafbar, eine rassistische Einstellung zu haben. Rassistische Äusserungen zu verbreiten, hingegen schon.
Denn: Auch der Meinungsfreiheit sind gesetzliche Schranken gesetzt. «Die Freiheit, eine Meinung zu äussern, ist nicht absolut», sagt Hertig. Ein absolutes Recht ist eines, das niemals eingeschränkt werden kann – auch nicht in aussergewöhnlichen Lagen wie Krieg, Krise oder Pandemie. «Es gibt nur ganz wenige absolute Rechte, die uneingeschränkt gelten, zum Beispiel das Folterverbot.» Foltern ist nie erlaubt, weder im Krieg noch im Frieden, und auch nicht, wenn die Informationen, die man durch die Folter zu erlangen erhofft, viele Leben schützen könnten.
Die Meinungsfreiheit aber endet dort, wo andere Schutzgüter wie zum Beispiel die Menschenwürde verletzt werden. Dies gilt bei der Leugnung von Verbrechen gegen die MenschlichkeitExterner Link, wie dem Holocaust. Doch auch zum Beispiel Verbreitung von Hass gegen einzelne Personen oder Personengruppen ist strafbar.
Youtube & Co. dürfen Regeln setzen
Während der Corona-Pandemie haben sich Fälle gehäuft, in denen grosse Internetportale wie Youtube Beiträge wegen Falschaussagen löschten. Ist das eine Einschränkung der Meinungsfreiheit? Theoretisch schon, so Hertig. Aber: «Die Meinungsfreiheit schützt nur vor Eingriffen durch den Staat, sie bindet nicht direkt private Akteure wie Youtube.» Klagen kann man gestützt auf die Meinungsfreiheit also nur gegen den Staat, nicht gegen Private.
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Wer herrscht über die Meinungsfreiheit?
Auch das Zensurverbot richtet sich in erster Linie gegen den Staat. Bei Youtube und anderen Kanälen handelt es sich um private Anbieter, die nicht direkt an das verfassungsrechtliche Zensurverbot gebunden sind. Ihnen ist also freigestellt, was sie auf ihrer Plattform dulden wollen – und was nicht.
Nur: «Der Staat muss geeignete Massnahmen treffen, um die Meinungsfreiheit gegen Einschränkungen durch Private zu schützen», sagt Hertig. Das gilt auch im Internet und dort haben gewisse Plattformen mittlerweile eine Monopolstellung: «Youtube und andere soziale Medien sind heute wesentlich, damit sich Bürgerinnen und Bürger in eine Debatte einbringen können.»
Der Schutz der Meinungsfreiheit im Netz ist allerdings schwierig zu gewähren, weil die Firmen ihren Sitz häufig im Ausland haben und einseitige staatliche Regulierungen zu einer rechtlichen Fragmentierung führen. Darum seien international einheitlichere Regeln und mehr Transparenz dringend, sagt Hertig. «Es muss klar sein, was warum wegkommt». Das kann auch durch überstaatliche Initiativen geschehen. So haben grosse IT-Konzerne, darunter Facebook und Youtube, mit der EU eine VereinbarungExterner Link getroffen, Meldungen von Hassrede innerhalb von 24 Stunden zu prüfen. Ausserdem gibt es einen KodexExterner Link im Umgang mit Desinformation. Hier handelt es sich aber lediglich um BekenntnisseExterner Link der Unternehmen, also um Selbstregulierung.
Löschen von Falschnachrichten bringt wenig
Von Gesetzen, die das Löschen von Falschnachrichten vorschreiben, hält die Verfassungsrechtlerin Hertig aber nichts. Rechtlich gesehen ist es nicht grundsätzlich verboten, falsche Fakten zu verbreiten. Auch sei es teilweise schwierig zu definieren, was die «Wahrheit» sei. Und in manchen asiatischen Ländern werde zum Beispiel unter dem Vorwand von Fake News staatliche Zensur betrieben. «Es gehört ein Stück weit zu einer Demokratie, dass auch unliebsame Inhalte sichtbar sind», sagt sie.
«Je diverser das Meinungsbild, desto besser geht es der Demokratie», sagt Florian Steger, Medizinethiker und Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm. Zuhören sei ein notwendiger Akt des demokratischen Prozesses. Eine echte Lösung des Problems Falschinformation sei Löschen ohnehin nicht, denn «die Meinung bleibt in den Köpfen».
Viel besser wären laut Steger Bürgerdialoge und transparente Kommunikation. «Gerade in einer Pandemie wie dieser ist die Evidenzbasis oft unzureichend und die Regierungen müssen aus Vorsicht agieren.» Diese Wissenslücken seien zu benennen – auch wenn Unwissen für viele Menschen schwierig zu ertragen sei.
Wenn Beiträge gelöscht würden, sagt Steger, werde es ganz generell gefährlich. «Man darf nur löschen, was den Staat im Innersten erodiert. Und für solche Löschungen sind Polizei und Gerichte zuständig.» Konkret: Wenn die Kernzellen der Demokratie mit Gewalt bedroht würden, wie im Fall des Sturms auf das US-Kapitol, dann sei die Grenze des Sagbaren erreicht.
Wer Meinungsfreiheit beansprucht, muss auch Kritik in Kauf nehmen
Einige Kritikerinnen und Kritiker der Corona-Schutzmassnahmen beklagen, dass sie wegen ihrer Meinung angefeindet oder als «Corona-Leugner» bezeichnet würden und deshalb die Meinungsfreiheit ausgehöhlt werde. Hierzu sagt Maya Hertig: «Wer eine kontroverse Meinung äussert, muss auch zugespitzte Meinungen der Gegenseite aushalten. Es gehört dazu, dass man dann rhetorisch angegriffen wird. Es gibt kein Recht, nicht kritisiert zu werden.»
Ein weiteres Argument von «Corona-Skeptikern»: Es herrsche ein gesellschaftliches Klima, in dem keine abweichende Meinung geäussert werden dürfe. So schreibt zum Beispiel das Web-Portal Rubikon, das Verschwörungstheorien nahesteht: «Versuchen Sie einmal, im Freundes- und Familienkreis die Gefährlichkeit von Covid-19 zu ‹leugnen›. Versuchen Sie, den Sinn und Zweck des Impfens in Frage zu stellen. Es kann sein, dass Sie so aggressiven Gegenwind ernten, dass Sie beim nächsten Mal lieber stumm bleiben.» Anders zu denken sei sozial geächtet und Meinungsfreiheit damit de facto nicht möglich.
«Meinungsfreiheit braucht natürlich ein gewisses gesellschaftliches Klima», sagt Hertig. «Wenn ein Klima herrscht, das zu Selbstzensur führt, ist das ein Problem.» Dazu gehören Gewalt und Drohung, Entlassungen, aber auch vehemente verbale Angriffe auf Andersdenkende.
«Shitstorms» können da laut Hertig ebenfalls ein Problem darstellen. Nur sehen sich oft jene als Opfer, die den eigentlich aggressiven Part einnehmen: «Häufig wird der gesellschaftliche Druck zu ‹political correctness› übertrieben dargestellt und das führt zu einer Opfer-Täter-Umkehr: Opfer ist der weisse Rassist, nicht der mit Hassrede konfrontierte Schwarze.»
Soziale Kontrolle und ihre Rolle in der Pandemie
Drohungen gegen Wissenschaftlerinnen und Politiker haben während der Pandemie zugenommen – von Gewalt und Drohung gegen Corona-Skeptiker hingegen ist zumindest in der Schweiz nichts zu spüren. Jede und jeder kann seine Meinung frei äussern und an Corona-Demonstrationen teilnehmen.
Ob aber das soziale Umfeld der Rebellen deswegen Freudensprünge aufführt, ist eine andere Frage. «Wenn Corona-Skeptiker sich eingeschränkt fühlen, etwas zu sagen, liegt das häufig nicht an eingeschränkter Meinungsfreiheit, sondern an sozialer Kontrolle», sagt Urte Scholz, Professorin für Angewandte Sozial- und Gesundheitspsychologie an der Universität Zürich.
Wenn manche «Corona-Skeptiker» also die Meinungsfreiheit bedroht sehen, können sie damit höchstens den sozialen Druck meinen, der es erschwert, eine Abweichende Meinung zu äussern.
Mit sozialer Kontrolle versuchen Menschen, ihre Mitmenschen zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen. «Soziale Kontrolle findet grundsätzlich statt, ob wir das wollen oder nicht», erklärt Scholz. «In einem sozialen Miteinander passiert sie, weil wir aufeinander reagieren.» Und gerade in einer Pandemie könne soziale Kontrolle häufiger sein, weil sie durch die offiziellen Verhaltensempfehlungen und -regeln legitimiert sei.
Positive Strategien statt Zurechtweisen und Kritisieren
Doch: Es gibt verschiedene Wege, soziale Kontrolle auszuüben. Manche führen beim Gegenüber zu positiven Gefühlen, andere zu negativen. So kommt es durch Bestrafung, Nörgeln, Liebes- oder Freundschaftsentzug oder durch das Erzeugen eines schlechten Gewissens bei den «kontrollierten» Personen zu Scham oder Ärger.
In Studien zu sozialer Kontrolle in Bezug auf das Gesundheitsverhalten bei Paaren fanden Scholz und ihr Team heraus, dass diese negativen Strategien wenig bringen. Sie konnten keinen Zusammenhang feststellen zwischen «negativer» sozialer Kontrolle und einem gesünderen Verhalten. Im Gegenteil: Die kontrollierten Personen machten häufig gerade nicht das, was ihre Partner erwarteten – entweder demonstrativ oder heimlich.
Anders reagierten jene Personen, die mit positiven Strategien der sozialen Kontrolle konfrontiert waren. Zu den positiven Strategien gehören Diskutieren, Verhandeln, Überreden, das Aufzeigen von Vorteilen des angestrebten Verhaltens, der Verweis auf positive Beispiele und Komplimente. Übte der Partner solche positiv erlebte soziale Kontrolle aus, änderten die «kontrollierten» Personen ihr Verhalten eher und fühlten sich besser.
«Jetzt erst recht nicht!»
Negative soziale Kontrolle, wie sie gegenwärtig in der Öffentlichkeit zum Beispiel durch böse Blicke oder schroffes Zurechtweisen vorkommt, sei zwar in einer Pandemie nicht unüblich. Doch: «Unter Umständen reagieren manche Menschen dann eben gegenteilig: Sie sehen eine Diktatur am Werk und weigern sich, die Massnahmen einzuhalten.» Diese Menschen fühlten sich bevormundet, widersetzten sich und versuchten, ihre Autonomie wiederherzustellen.
Die Forschungsresultate von Urte Scholz zeigen: Positive Strategien sozialer Kontrolle wäre auch während der Pandemie wünschenswert. Das hiesse: Mit Kritikern der Schutzmassnahmen in Dialog treten, sich austauschen, andere Meinungen zulassen und ein Verhalten nicht über Druck oder negative Emotionen ändern wollen.
Wenn jemand ohne Maske im Tram sitzt, könnte man zum Beispiel sagen: «Für mich wäre es wichtig, dass Sie eine Maske tragen, weil ich mich dann wohler fühle.» Oder: «Sie haben die Maske bestimmt vergessen, das ist mir auch schon passiert.» Oder dem anderen eine frische Maske anbieten.
Sind solche Versuche nicht naiv und zum Scheitern verurteilt? «Ob das Gegenüber auf ein solches Angebot eingeht, hängt stark vom sozialen Kontext ab», sagt Scholz. Einen Versuch sei es aber wert – und allemal besser, als ihn schlicht einen «Idioten» zu nennen.
Dies ist die gekürzte Version eines Beitrags vom 11. März auf dem Schweizer Online-Wissenschaftsmagazin higgs.ch.
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