Wie die Schweiz vom Krieg profitiert
Volle Auftragsbücher und steigende Aktienkurse: Die weltweite Aufrüstung im Zuge des Ukraine-Kriegs freut auch Waffenfirmen in der Schweiz.
Europa rüstet auf. Nur wenige Tage nach dem russischen Einfall in der Ukraine kündigte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz anExterner Link, dass sein Land 100 Milliarden Euro für die Modernisierung der Bundeswehr bereitstellen werde. Kurz danach gaben auch skandinavische und osteuropäischen Staaten bekannt, dass sie ihre Militärbudgets drastisch erhöhen wollen, um der Bedrohung aus Moskau entgegenzutreten.
Davon profitieren auch die Rüstungskonzerne in der Schweiz. In den Fabriken des deutschen Unternehmens Rheinmetall in Altdorf und Zürich, wo unter anderem Flugabwehrsysteme, Radargeräte und Munition hergestellt werden, kommen die Mitarbeitenden kaum mit der Arbeit nach.
Die Produktion müsse beschleunigt werden, forderte der Leiter der Schweizer Niederlassung, Oliver Dürr, gemäss einem Schreiben an die Belegschaft, das die «Handelszeitung» veröffentlicht hatExterner Link. Der Wert der Rheinmetall-Aktie hat sich seit Kriegsbeginn mehr als verdoppelt. Das Unternehmen rechnet mit einem Umsatzanstieg von bis zu 20%.
Die NATO ist Hauptkundin
Auch die anderen Rüstungskonzerne in der Schweiz profitieren. Die schwedische Firma SaabExterner Link, die an ihrem Standort in Thun rund 80 Personen beschäftigt, stellt «wie die Mehrheit der Verteidigungsindustrie ein erhöhtes Interesse an ihren Produkten» fest, liess das Unternehmen verlauten. Auch hier sind die Anleger zuversichtlich: Der Aktienkurs des Konzerns, der unter anderem Flugabwehrsysteme produziert, ist seit dem 24. Februar kontinuierlich gestiegen.
Ähnlich sieht es bei dem bundesnahen Konzern Ruag aus, der von einer «Zunahme der Anfragen seitens der NATO-Länder» berichtet. Der grösste Hersteller von Kleinkaliber-Munition in Europa steht nach eigenen Angaben in «engem Kontakt mit seinen wichtigsten Kunden, um die langfristigen Produktionskapazitäten zu planen.»
Auch bei Rheinmetall sind es die NATO-Mitgliedländer, die den Löwenanteil der neuen Verträge ausmachen: «Der konzernweite Auftragsbestand beläuft sich heute zu rund 87% auf Aufträge aus NATO-Mitgliedstaaten, mit steigender Tendenz», sagt Sprecher Oliver Hoffmann.
Auch Mowag, der im Thurgau ansässige Hersteller von gepanzerten Fahrzeugen, der zum US-Konzern General Dynamics gehörtExterner Link, soll laut der «Tribune de Genève»Externer Link mit Deutschland und anderen europäischen Ländern in Kontakt stehen.
«Weil Rüstungsgeschäfte langfristigen Beschaffungszyklen unterliegen, ist es derzeit jedoch noch völlig offen, ob und in welchem Umfang sich diese zukünftigen Bedürfnisse konkret auf unsere Auftragslage auswirken werden», informiert Sprecher Pascal Kopp.
Stetig steigende Exporte
2021 hat die Schweiz Waffen und Munition im Wert von 742,8 Millionen Franken exportiert. Dies entspricht zwar einem Rückgang von 18% im Vergleich zum Rekordjahr 2020, doch langfristig gesehen ist der Trend eindeutig: In den vergangenen 20 Jahren haben sich die Verkäufe von Rüstungsgütern ins Ausland fast verdreifacht. Diese Entwicklung dürfte sich fortsetzen oder sogar noch beschleunigen, wie unsere Umfrage bei den grossen Unternehmen zeigt.
Selbst das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), das den Waffenherstellern die Exportgenehmigungen erteilt, rechnet mit guten Zeiten für die Industrie. »Die Nachfrage nach Rüstungsgütern dürfte weltweit steigen», so Sprecher Fabian Maienfisch. Dies werde sich auch auf die Nachfrage nach Waffensystemen aus der Schweiz auswirken.
Im internationalen Vergleich bleibt die Schweiz mit einem Anteil von weniger als 1% an den Gesamtexporten dennoch eine Zwergin. Der Weltmarkt wird wenig überraschend von den USA (40%) dominiert, gefolgt von Frankreich und Russland (je 13%). Zwei weitere europäische Länder, Italien (5%) und Deutschland (4%), vervollständigen das Spitzenquintett.
Wichtig für Technologietransfer
Abgesehen von der Ruag und einigen internationalen Grosskonzernen ist in der Schweiz die Herstellung von Komponenten für Waffen und Munition auf rund 3000 kleine und mittlere Unternehmen (KMU) verteilt.
Diese Zulieferer sind hauptsächlich im zivilen Bereich tätig und stellen nebenbei militärische Güter her. Viele Maschinenhersteller vermarkten beispielsweise Bearbeitungslösungen für Metallteile, die sowohl in Uhren, medizinischen Geräten als auch in Hochpräzisions-Waffen zu finden sind.
Insgesamt stellt der Rüstungssektor laut dem Forschungszentrum BAK EconomicsExterner Link knapp 10’000 Arbeitsplätze in der Schweiz. Es ist eine relativ bescheidene Zahl angesichts der 300’000 Jobs, welche die Schweizer Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (MEM) zählt. Die militärischen Verträge sind aber gemäss Branchenvertretern für die Schweizer KMU sehr wichtig, da sie einen Technologietransfer vom militärischen in den zivilen Bereich ermöglichen.
«Die internationalen Konzerne, die im militärisch-industriellen Bereich tätig sind, bewegen sich auf einem sehr hohen technologischen Niveau. Dieses Knowhow kann auf zahlreiche andere Anwendungen umgemünzt werden, wodurch unsere Unternehmen an Wettbewerbsfähigkeit gewinnen», sagt Philippe Cordonier, der Westschweizer Direktor des Dachverbands Swissmem.
Viel Polemik, zahlreiche Skandale
Obwohl die Rüstungsindustrie weniger als ein Prozent der Industrieexporte des Landes ausmacht, steht sie regelmässig im Fokus der politischen Debatte in der Schweiz. Dies hat vor allem damit zu tun, dass sich das Land der Neutralität und den Menschenrechten verpflichtet hat.
Die jüngste Polemik betraf die Weigerung BernsExterner Link, Deutschland die Ausfuhr von Munition aus Schweizer Produktion in die Ukraine zu gestatten. Der Bund begründete seinen Entscheid damit, dass das Schweizer Gesetz Exporte in Länder verbietet, die in interne oder internationale Konflikte verwickelt sind.
Diese Interpretation missfiel einigen Politikerinnen und Politikern, sowohl aus dem rechten als auch aus dem linken Lager. Gerhard Pfister, Präsident der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP), beschuldigte den BundesratExterner Link der «unterlassenen Hilfeleistung für die Ukraine».
Über viele Jahrhunderte exportierte die Schweiz nur Söldner und keine Waffen – erst nach dem Ersten Weltkrieg entstand eine exportfähige Kriegsmaterialindustrie in der Schweiz.
Das Den Haager Abkommen von 1907 untersagte neutralen Staaten zwar den Export von staatlich produzierten Waffen – das galt aber nicht für die Privatwirtschaft. Zudem gebot es, nicht einseitig an eine Kriegspartei zu liefern. Daraus entwickelte die Schweiz eine Neutralitätsposition des Gleichgewichts: Sie setzte sich im damals neu gegründeten Völkerbund für eine Aufrüstung Deutschlands und gleichzeitig eine Abrüstung der Alliierten ein. Mit der Folge, dass sich deutsche Waffenhersteller in der Schweiz ansiedelten, um die alliierten Rüstungskontrollbestimmungen zu umgehen. Im Zweiten Weltkrieg versuchte die Schweiz, mehr Kriegsmaterial an die Deutschen zu verkaufen, um das Ungleichgewicht gegenüber ihren Waffenexporten an Alliierte auszugleichen.
Im Kalten Krieg geriet diese Gleichgewichtsdoktrin unter Druck, und die Schweiz lieferte primär in den westlichen Teil der gespaltenen Welt. Zu den Kunden gehörten nicht nur lupenreine Demokratien, sondern auch Militärdiktaturen. Trotz breiter Kritik stand die offizielle, bürgerlich geprägte Schweiz hinter die Rüstungsindustrie: In einer Drosselung der Waffenproduktion sah man eine Schwächung der Abwehrbereitschaft – ganz im Geist des Kalten Krieges. Einen Widerspruch zur Neutralität sah man nicht, im Gegenteil: Die vorschnelle Nicht-Berücksichtigung einer Nation bei Waffenlieferungen wertete man als nicht-neutral.
Diese Rhetoriken verschwanden mit dem Kalten Krieg und wichen wirtschaftsliberalen Argumenten, die zu grosse Regulatorien befürchten. Dies mit der Unterstützung der Bevölkerung: Initiativen, die 1997 und 2009 den Kriegsmaterialexport ganz verbieten wollten, lieferten immer wichtige Korrektive, wurden aber nie angenommen.
In den letzten Jahren häuften sich die Skandale um die illegale Präsenz von Schweizer Militärmaterial in Kriegsgebieten. Im Februar deckte ein Journalistenkonsortium auf, dass ein Pilatus PC-12 bei einem tödlichen Bombenangriff in Afghanistan eingesetzt wurde sowie im Jemen-Krieg Schweizer Sturmgewehre von Saudi-Arabien verwendet wurden.
Ausnahmen immer möglich
Die Schweiz rühmt sich, eines der strengsten Gesetze hinsichtlich der Ausfuhr von Kriegsmaterial zu haben. Dieser Rechtsrahmen wurde am 1. Mai weiter verschärft: Schweizer Unternehmen dürfen keine Waffen mehr in Länder exportieren, welche «die Menschenrechte schwerwiegend verletzen». Dies betrifft zum Beispiel Saudi-Arabien: Das Land steht wegen seiner militärischen Intervention im Jemen de facto bereits seit 2015 auf der roten Liste.
Im Jahr 2021 stand Saudi-Arabien jedoch mit Bestellungen im Wert von über 50 Millionen Franken auf Platz 6 der Empfängerländer von Schweizer Waffen. Der Grund ist Artikel 23 des Kriegsmaterial-GesetzesExterner Link, der laut Seco «die Ausfuhr von Ersatzteilen für Kriegsmaterial, dessen Ausfuhr bewilligt worden ist», erlaubt.
Der Fall Katar ist seinerseits noch nicht entschieden, obwohl Menschenrechts-Organisationen den Golfstaat beschuldigen, für den Tod von 6500 Wanderarbeitern auf den Baustellen der Fussball-WM verantwortlich zu sein. «Das Seco führt keine Liste von Ländern, die systematisch und schwerwiegend gegen die Menschenrechte verstossen. Die Beurteilung erfolgt von Fall zu Fall», betont Sprecher Maienfisch.
Der Krieg in der Ukraine markiert jedoch einen Wendepunkt. Mit dem Anstieg der Waffenkäufe in den westlichen Ländern könnten Schweizer Unternehmen gegenüber einigen problematischen Ländern mehr Sorgfalt walten lassen. »Das Bedürfnis, um jeden Preis Geschäfte zu machen, wird in der Industrie weniger spürbar sein», prognostizierte der sozialdemokratische Nationalrat Pierre-Alain Fridez gegenüber «Le Temps».
«Ein erheblicher Imageschaden»
Dies ist jedoch kein Grund zur Beruhigung für Kritikerinnen und Kritiker. «Die Frage ist nicht, ob es einen neuen Skandal geben wird, sondern wann», sagt der Grünen-Nationalrat Fabien Fivaz. «Die Erfahrung der letzten Jahre hat gezeigt, dass trotz aller Kontrollen immer wieder Schweizer Waffen in Kriegsgebieten landen.»
Bei jeder Enthüllung erleide der Bund einen erheblichen Imageschaden. Ein Spiel, das sich nicht lohne, betont Fivaz. «Wenn man Waffen im Wert von mehreren hundert Millionen Franken exportiert, trägt man zu den weltweiten Kriegsanstrengungen bei. Die Schweiz betreibt gleichzeitig gute Dienste und gute Geschäfte. Ich kann verstehen, dass das im Ausland nicht gut ankommt», kritisiert er.
Auf der Seite der Befürwortenden der Industrie gibt man sich viel pragmatischer: «Wir haben bereits eine viel strengere Regulierung als die meisten anderen europäischen Staaten. Eine weitere Verschärfung der Gesetze würde unsere Industrie nur benachteiligen. Wenn nicht wir es sind, die diese Waffen verkaufen, werden es andere tun», sagt Cordonier von Swissmem.
(Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer)
(Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer)
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