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Adoption war oft krimineller als gedacht

Mehr als 700 Kinder aus Sri Lanka wurden in der Schweiz adoptiert
Mehr als 700 Kinder aus Sri Lanka wurden in der Schweiz adoptiert, einige von ihnen illegal. Keystone / Rafiq Maqbool

UNO-Menschenrechtsexperte Olivier de Frouville nimmt die Schweiz in die Pflicht: Es bestehe ein klarer Zusammenhang zwischen illegal adoptierten, in die Schweiz gebrachten Kindern aus Sri Lanka und dem organisierten Menschenhandel.

Vergangenen Mai forderte das Büro des UNO-Menschenrechtsexperten Olivier de Frouville die Schweiz auf, illegale Adoptionen aus Sri Lanka zwischen den 1970er- und 90er-Jahren zu untersuchen. Das Ziel: Feststellen, ob einige der Kinder Opfer von «Verschwindenlassen» und anderen Straftaten wurden (vgl. Box). 

Der UNO-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen (CED) verlangte unter anderem auch finanzielle Wiedergutmachung für die Opfer. Die Forderungen folgten, nachdem die Umsetzung einer entsprechenden UNO-KonventionExterner Link überprüft worden war. Die Schweiz ratifizierte das Abkommen 2016. Nun muss sie bis zum 7. Mai 2022 Bericht erstatten.

Unter dem Ausdruck «Verschwindenlassen» wird die Festnahme, Haft, Entführung oder jede andere Form von Freiheitsentzug durch eine Person oder Personengruppe verstanden. Durch diese Praxis werden die Verschwundenen dem Schutz des Gesetzes entzogen und ihre Familien psychisch schwer belastet.

Im Dezember 2020 räumte die Schweiz das Fehlverhalten Externer Linkvon kantonalen und eidgenössischen Behörden ein. Diese hätten von illegalen Adoptionen aus Sri Lanka zwischen den 1970er- und 90er-Jahren gewusst und sie nicht verhindert. Die Unregelmässigkeiten wurden in einem 2020 veröffentlichten historischen BerichtExterner Link der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW detailliert beschrieben. Demnach wurden in den 80er-Jahren über 700 Kinder aus Sri Lanka in der Schweiz adoptiert, viele davon illegal.

In der Folge hat die Schweiz zugesagt, den Betroffenen bei der Suche nach ihrer Herkunft zu helfen. Sie beabsichtigt, eine weitere Untersuchung durchzuführen, um festzustellen, ob es auch bei anderen Herkunftsländern zu Unregelmässigkeiten gekommen ist. Eine Expertengruppe soll zudem das aktuelle Adoptionssystem untersuchen, um Schwachstellen aufzuspüren.

Wie die Verbindungen der Schweiz zum Menschenhandel aussahen und was «Verschwindenlassen» überhaupt bedeutet, erläutert CED-Vizepräsident Olivier de Frouville im Interview.

SWI swissinfo.ch: Herr de Frouville, wie kam es zu Ihren Untersuchungen zur Situation in der Schweiz?

Olivier de Frouville: Es war die Schweizer NGO Back to the RootsExterner Link, die uns einen Bericht mit entsprechenden Informationen vorlegte. Wir hatten zuvor nicht damit gerechnet, dass die Schweiz bei diesem Thema in den Fokus rückt.

Wann gelten illegale Adoptionen als «Verschwindenlassen»?  

Die Umstände sind vielfältig. Meistens werden die Kinder entführt und ihrer wahren Identität beraubt. Oft werden sie auch gestohlen, während ihre Eltern selbst unauffindbar bleiben. In einigen Fällen werden die Kinder gleich nach der Geburt entführt und illegal adoptiert.

So kam es vor, dass Müttern gleich nach der Entbindung ihre Babys weggenommen wurden. Die Ärzte teilten ihnen mit, dass ihr Kind verstorben sei – den Leichnam durften sie nicht sehen. In Wirklichkeit wurden die Babys gestohlen und an Zwischenhändler in Sri Lanka verkauft. Diese gaben sie anschliessend zur Adoption an Schweizer Familien weiter. Es gibt auch schreckliche Berichte über «Babyfarmen», in denen Frauen gewaltsam festgehalten und gezwungen wurden, Kinder zu gebären.

CED-Vizepräsident Olivier de Frouville
Olivier de Frouville, Vizepräsident des United Nations Committee on Enforced Disappearances. Christof Heyns

In mehreren solchen Fällen wurden Kinder an Schweizer Bürger vermittelt. Und dass geschah unter Aufsicht von Schweizer Behörden. Die Vermittler müssen von kantonalen Stellen zugelassen und überprüft werden. Und die Bundesbehörden haben das Recht, gegen die von den Kantonen erteilten Bewilligungen Einspruch zu erheben.

Im Bericht des Bundesrates wird eingeräumt, dass sowohl die kantonalen als auch die Stellen des Bundes keine geeigneten Massnahmen ergriffen haben, um illegale Adoptionen, auch über Schweizer Vermittler, zu verhindern. Dabei hatte die Botschaft in Colombo seit Anfang der 80er-Jahre vor Aktivitäten im Zusammenhang mit internationalen Adoptionen gewarnt.

Wie reagierte die Schweizer Delegation auf die Bemerkungen Ihres Komitees?

Wir konfrontierten die Schweiz mit den Angaben von Back to the Roots. Und die Schweiz erklärte, dass der Prozess zur Klärung des Sachverhalts bereits begonnen habeExterner Link. Sie räumte auch ein, dass einige dieser Fälle – nicht notwendigerweise alle – auf ein Verschwindenlassen im Sinne der Konvention zurückzuführen sein könnten. Ich denke, die Schweiz nimmt die Angelegenheit sehr ernst und, was noch wichtiger ist, arbeitet in enger Absprache mit den Betroffenen. Im Mai 2022 muss sie dem Ausschuss Bericht erstatten – wir hoffen auf gute Resultate.

Welche Verpflichtungen hat die Schweiz im Rahmen der Konvention?

Die Konvention gilt für alle Fälle, die unter die Definition des Verschwindenlassens fallen. Einerseits begrüssen wir die Annahme des Berichts durch den Bundesrat und stellen fest, dass er die Versäumnisse der Schweiz anerkennt und bedauert. Andererseits sind wir besorgt, dass offenbar keine Schritte zur Strafverfolgung der Täter und zur Anerkennung des Rechts der Opfer auf Wiedergutmachung unternommen worden sind.

Wir erinnern daran, dass alle Staaten verpflichtet sind, Täter zu bestrafen und den Opfern Wiedergutmachung zu leisten. Zudem haben die Opfer ein Recht auf Wahrheit, und der Staat muss sie bei der Wahrheitssuche unterstützen. Das geschieht auch durch Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern wie Sri Lanka, das ebenfalls Vertragspartei ist.

Wie wird sich dieser Fall auf die Arbeit Ihres Ausschusses auswirken?

Er ist definitiv Neuland für uns. Zuvor hatten wir uns mit der Praxis illegaler Adoptionen in anderen Zusammenhängen befasst, vor allem bewaffnete Konflikte oder Diktaturen. Zum Beispiel untersuchten wir die tausendfache Entführung von Kleinkindern während die Franco-Ära in Spanien. Kinderraub fand auch im Rahmen von Repressionen gegen die Zivilbevölkerung oder im Zusammenhang mit kolonialen oder postkolonialen Völkermorden statt, zum Beispiel in Australien oder Nordamerika.

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Der aktuelle Fall betrifft eine neue Form der illegalen Adoption. Solches Verschwindenlassen ist eher mit dem organisierten Verbrechen verwandt und weist wenig bis gar keine politischen Motive auf, auch wenn die Grenzen manchmal verschwimmen. Es ist klar, dass solche widerrechtlichen Adoptionen viele Länder plagen. Derzeit werden diese Praktiken vor allem durch die Brille des internationalen Privatrechts und der Regelung der internationalen Adoption (Haager Adoptionsübereinkommen von 1993), der Rechte von Kindern (UN-Kinderrechtskonvention und ihr Fakultativprotokoll über Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornografie), aber auch des Menschenhandels (UN-Protokoll zum Menschenhandel und andere regionale Instrumente) betrachtet.

Das gewaltsame Verschwinden von Kindern verleiht der Problematik eine neue Dimension. Die Zahl der Opfer ist potenziell riesig. Unsere Aufgabe besteht also erstens darin, in enger Abstimmung mit Stellen zu arbeiten, die auf der Grundlage anderer Rechtsrahmen tätig sind. Und zweitens müssen wir genau untersuchen, was unter die Definition des «Verschwindenlassens» fällt. 

Davon abgesehen glaube ich, dass unsere Perspektive viel dazu beitragen kann, die Rechte der Opfer auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung zu stärken. Kriminelle, die davon profitieren, Kinder ihren Familien zu entreissen und sie im In- oder Ausland zu verkaufen, sollten sich bewusst sein, dass ihre Taten sehr schwere Verbrechen und unter Umständen sogar Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen. Es handelt sich auch um fortlaufende Verbrechen, da sie nach der Entführung fortgesetzt werden. Daher können diese Taten auch noch Jahre nach der Entführung geahndet werden.

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